Skriptorium. Stephanie Hauschild. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephanie Hauschild
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783805346979
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Schausammlung eines Museums oder einer Bibliothek werden solche Handschriften aber nur selten ausgestellt, weil sie nicht besonders ansehnlich sind. Nur wenige Spezialisten dürften beim Anblick eines derartigen Buches wirklich Begeisterung empfinden. Das muss auch den ehemaligen Besitzern des euchologions bewusst gewesen sein, die das Buch mit gefälschten Miniaturen ausstatten ließen, um es für den Verkauf attraktiver zu machen. Auf einer Auktion in New York Ende der 90er-Jahre wurde die Handschrift für 2 Millionen Dollar verkauft. Der unbekannte Käufer behielt das Buch nicht für sich, sondern deponierte es in dem für seine mittelalterliche Handschriftensammlung berühmten Walters Museum of Art in Baltimore. Aber nicht Myronas’ Gebete mit den bescheidenen Verzierungen oder die plumpen Fälschungen waren es, die den Besitzer und die Fachleute des Museums zum Staunen brachten, sondern der abgeschabte, in Griechisch geschriebene Text des alten Pergaments, der zwischen den von Myronas beschriebenen Zeilen durchschimmerte und auf einigen Seiten sogar Diagramme erahnen ließ. Solche abgeschabten Pergamente, auf denen der alte Text noch bruchstückhaft lesbar ist, nennen Fachleute Palimpsest. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und lässt sich am besten mit „wieder abgeschabt“ übersetzen. Neugierig geworden und von bestimmten Vermutungen geleitet, begann man im Museum mit Untersuchungen, um die nahezu unsichtbare Schrift wieder lesbar zu machen. Es stellte sich heraus, dass das Gebetbuch bisher völlig unbekannte Abhandlungen des Mathematikers Archimedes und des Redners Hyperides enthielt und dazu noch weitere Texte aus der Zeit der griechischen Antike. Die Entdeckung solcher vollkommen neuer, unbekannter Texte war eine wissenschaftliche Sensation und eine außerordentlich glückliche Gelegenheit für die Wissenschaft. Tatsächlich schöpfen wir unser heutiges Wissen über die Literatur der Griechen und Römer zu einem nicht geringen Teil aus solchen Palimpsest-Funden. Denn in vielen mittelalterlichen Skriptorien wurden die Pergamentblätter von älteren, nicht mehr gebrauchten Handschriften wieder verwendet.

      Doch wie kamen die mathematischen Abhandlungen und Reden aus dem vorchristlichen Griechenland überhaupt in Myronas’ Gebetbuch? Die Schriftenanalyse der abgeschabten Texte zeigte, dass die Palimpseste in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in der Hauptstadt des byzantinischen Reiches, in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) kopiert worden waren. Im Unterschied zu Rom und den anderen Städten des Altertums hatte Konstantinopel ohne Kriege und Zerstörungen das Mittelalter erreicht. Noch im 9. und 10. Jahrhundert wurden dort die kulturellen Errungenschaften der vorchristlichen Vergangenheit gepflegt und die alten Texte weiterhin abgeschrieben und gesammelt. Dem besonderen geistigen Klima um den Kaiserpalast als kulturellem Zentrum ist es zu verdanken, dass auch Archimedes’ und Hyperides’ Schriften weiterhin geschätzt wurden.

      Die Zeit kultureller Entfaltung in Konstantinopel endete im Jahr 1204, als Kreuzfahrer die reichste Stadt Europas plünderten und zerstörten und damit auch viele Bibliotheken mit dem darin angesammelten Wissen. In den auf den Überfall folgenden unruhigen Jahrzehnten wurden die meisten Bibliotheken nicht wieder aufgebaut. Stattdessen verwertete man die übrig gebliebenen Bücher mit antiken Texten, indem man die herausgetrennten Pergamentseiten zu neuen Büchern recycelte. Doch nicht allein in Konstantinopel ging man aus heutiger Sicht so unglaublich respektlos mit den alten Schriften um. Im westlichen Europa ist die Abtei von Bobbio in Oberitalien für ihre Palimpsest-Handschriften berühmt geworden. Auch dort schrieb man neue Bücher auf alte Pergamente. Wie im Falle von Myronas’ Gebetbuch sind auch in der Bibliothek von Bobbio die manchmal nur noch in Spuren feststellbaren Texte für uns heute wichtiger und interessanter als die darübergelegte jüngere Schrift.

      Myronas schrieb sein Gebetbuch jedoch nicht in Konstantinopel, sondern in Jerusalem. Das wissen wir, weil seine Gebetstexte der Liturgie der Kirche von Jerusalem folgen. Vom Zeitpunkt seiner Fertigstellung im April 1229 haben die Schriften von Hyperides und Archimedes eingeschlossen in ein klösterliches Gebetbuch die Zeiten überdauert. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Handschrift in einem orthodoxen Kloster in Palästina gehütet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gehörte sie zum Bibliotheksbestand des griechischen Patriarchen. Irgendwann kam das Buch zurück nach Konstantinopel und wurde dort in einer dem Patriarchat zugehörigen Klosterbibliothek aufbewahrt. Von der Klosterbibliothek wanderte es schließlich auf ungeklärten Wegen in eine französische Privatsammlung und später in die Auktion zu seinem heutigen Besitzer und dem Baltimore Museum of Art. Dort wurde die Handschrift 2011 erstmals in einer Ausstellung einem großen Publikum vorgestellt.

      Schriftrollen

      Der Weg der Handschrift aus dem 10. Jahrhundert von der Türkei über Israel und Frankreich bis in die USA lässt sich mithilfe von Dokumenten und Augenzeugenberichten nachvollziehen. Schwieriger wird es jedoch, wenn man wissen will, auf welchen Wegen die uralten griechischen Schriften überhaupt in die Schreibwerkstätten von Konstantinopel gekommen sind. Diese Tatsache ist nicht weniger erstaunlich als der Weg des Buches von Jerusalem nach Baltimore. Hyperides lebte im 4. vorchristlichen Jahrhundert in Athen. Archimedes forschte 100 Jahre nach Hyperides in Syrakus auf der Insel Sizilien. Weder Archimedes noch Hyperides schrieben ihre Texte auf jenes Pergament, das wir heute im Museum betrachten können. Pergament war in der griechischen und römischen Antike zwar nicht unbekannt, wurde aber nur sehr selten verwendet.

      Überwiegend schrieben Griechen und Römer auf einer ägyptischen Erfindung. Ihre Bücher bestanden aus aneinandergeklebten Blättern aus Papyrus, die um einen hölzernen Stab, den umbilicus gewickelt wurden. Archimedes und Hyperides schrieben also auf Schriftrollen oder rotuli. Auf einem rotulus zeichnete man den Text in Spalten quer zur Rolle auf. Die Rollen maßen zwischen 13 und 30 cm in der Höhe. Die einzelnen Spalten oder Kolumnen waren somit ungefähr so lang und auch so breit wie Texte unserer heutigen Bücher auch. Eine Papyrusrolle konnte jedoch in der Länge 9 Meter oder mehr messen. Beschrieben wurde sie nur auf einer Seite. So konnte man den rotulus aufrollen und gleichzeitig den auf der Innenseite befindlichen Text schützen. Zum Schreiben verwendete man die festen Halme der Wasserbinse oder ein angespitztes Schilfrohr, den calamus, die man wie moderne Federn in Tinte tauchte.

      Der große Erfolg der Papyrusrollen in der Kultur der antiken Mittelmeervölker lag in der einfachen Beschaffung des Ausgangsmaterials und in den geringen Herstellungskosten begründet. Über die Produktionsabläufe sind wir informiert, weil Plinius der Ältere im 13. Buch seiner Historia naturalis den Vorgang der Buchrollenherstellung detailliert beschrieben hat. Die Papyrusstaude (Cyperus papyrus) ist eine rasch wachsende Sumpfpflanze, die in den Tropen Afrikas, in Syrien und Palästina wild wächst und bis zu fünf Meter hoch werden kann. In Ägypten selbst ist sie heute nicht mehr zu finden. In der Antike jedoch wurden die Stauden dort im großen Stil angebaut und in den gesamten Mittelmeerraum verschifft. Berühmt waren etwa die Papyri der phönizischen Stadt Biblos, nach der die Griechen den Begriff biblion prägten, mit dem sie die papyri, also Bücher aus Papyrus bezeichneten. Um aus den einzelnen Pflanzen das unserem heutigen Papier ganz ähnliche Schreibmaterial herzustellen, wurden die Fasern aus den Stängeln neben- und übereinander gepresst. Der in der Pflanze enthaltende Klebstoff verband die Fasern fest miteinander und bot eine hellfarbige raue Schreibfläche. Das auf dieses Weise hergestellte Blatt hieß kollema. Mehrere kollemata gleicher Größe klebte man zu den Rollen zusammen, die in unterschiedlichen Qualitäten angeboten wurden.

      Schriftrollen aus Papyrus sind recht spröde und brechen leicht auseinander. In der trockenen und warmen Luft Südeuropas und Nordafrikas waren sie kurzfristig ganz gut haltbar, doch für die Reise durch die Jahrhunderte waren sie nicht geschaffen. So sind die Buchrollen aus den großen Bibliotheken Roms und Griechenlands verloren. Kriege, Feuer und der Gang der Zeit haben unzählige antike Schriftrollen zerstört, nur Reste haben sich bis heute erhalten. Zumeist handelt es sich um Überbleibsel ägyptischer Papyri, die im trockenen Wüstenklima überdauerten. Besonders glücklichen Umständen ist es jedoch zu verdanken, dass in der vom Vesuv verschütteten Stadt Herculaneum eine römische Privatbibliothek gefunden wurde, die einen Einblick in die Ordnung und Aufbewahrung einer antiken Büchersammlung gewährt. In der bis heute nur teilweise freigelegten Villa dei Papiri entdeckten Forscher im 18. Jahrhundert einen Raum, in dem griechische Buchrollen aufbewahrt wurden. Johann Joachim Winckelmann hatte das Glück, als einer der Ersten die Räume betreten zu dürfen. In seinen „Sendschreiben aus Herculaneum“ berichtet er von dem kleinen Zimmer mit rundherum an der Mauer und in