Skriptorium. Stephanie Hauschild. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephanie Hauschild
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783805346979
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Kultur des Mittelalters. So ist der Zugang zur mittelalterlichen Buchkunst über Abbildungen und Reproduktionen praktisch und angenehm, um die Handschriften in Ruhe anzuschauen und zu vergleichen, die ja sonst weit verstreut an entlegenen Orten aufbewahrt werden und – im Unterschied zu vielen berühmten Gemälden – nur selten ständig für die breite öffentlichkeit zugänglich sind. Um besonders kostbare Originale in den Bibliotheken zu schonen, werden inzwischen selbst Wissenschaftler zunächst auf die Reproduktionen verwiesen.

      Doch eine Reproduktion kann die Betrachtung der Originale nicht ersetzen, sondern nur unterstützen. Wohl lässt sich im Ausstellungsraum immer nur ein kleiner Teil des Buches betrachten. Das Licht ist gedämpft, eine Glasscheibe hält den Betrachter auf Distanz und behindert ein intensives Studium der Details, vor allem wenn es sich um kleine Bücher handelt. Andere Besucher möchten die ausgestellten Handschriften natürlich ebenfalls anschauen, sodass nicht immer ein ausgiebiges und ungestörtes Schwelgen möglich ist. Doch ganz unabhängig davon, wie gut Reproduktionen der Handschriften auch gemacht sind, so können sie doch immer nur einen unvollständigen Eindruck des Originals geben. Das hat weniger mit der vermeintlichen Aura des Kunstwerks zu tun als vielmehr mit der Tatsache, dass sich einige Fragen nur am Kunstwerk selbst beantworten lassen. Die Frage „Wie wurden die Bücher gemacht?“ gehört auf jeden Fall dazu. Da man die Hersteller ja nicht mehr fragen kann, muss das Objekt „sprechen“: Größe, Farben, Form, Gestaltung der Oberfläche, das Zusammenspiel der verwendeten Materialien, Spuren von Herstellern und Benutzern geben Hinweise auf Herstellung und Gebrauch. Die Möglichkeit, die Handschrift von allen Seiten anzuschauen und die Details zu erforschen, bietet nur das Original. Keine Abbildung, keine Beschreibung, kein noch so gut gemachtes Vollfaksimile kann dies alles leisten oder gar das Original ersetzen. Ähnlich einem Kriminalisten, der die Begleitumstände einer rätselhaften Tat erforscht und darauf angewiesen ist, den Tatort und die dort gefundenen Objekte selbst in Augenschein zu nehmen, zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, ist auch für Betrachter der mittelalterlichen Handschriften der Kontakt mit den Originalen wichtig. Möglich ist die Begegnung nur im Museum, in der Bibliothek oder im Ausstellungsraum.

      Das vorliegende Buch soll den an mittelalterlichen Handschriften interessierten Lesern eine kleine Hilfestellung an die Hand geben, solche Bücher in der Ausstellung besser zu verstehen und zu einem eigenen Urteil zu finden. Denn es trägt sehr zum Verständnis jeder Art von Kunst und damit auch von mittelalterlichen Handschriften bei, wenn man sich einmal klar macht, auf welche Weise und aus welchen Materialien die Kunstwerke hergestellt wurden. Denn sie gleichen ja nur auf den ersten Blick unseren heutigen zu Hunderttausenden reproduzierten gleichförmigen Büchern aus Pappe, Papier, Druckerfarbe, Textilien und Kunststoff. Bücher im Mittelalter bestanden aus völlig anderen Ausgangsstoffen, fühlen sich anders an und riechen sogar anders. Zumindest in der ersten Hälfte des Mittelalters wurden sie auch anders aufbewahrt, benutzt und behandelt, als wir das mit unseren heutigen Büchern tun.

      Am Beispiel von einigen berühmten und einigen weniger bekannten Handschriften werden im Folgenden mittelalterliche Bücher im Hinblick auf ihre Herstellung und Benutzung untersucht und besprochen. Ausgangspunkt ist die Frage: Was kann man überhaupt sehen, wenn man eine mittelalterliche Handschrift vor sich hat, und was ist wichtig, um eine Handschrift genauer zu verstehen? Denn häufig bleibt der Blick bei der Betrachtung eines Kunstwerks an der Oberfläche, weil man nicht recht weiß, wohin man schauen soll und wie das Gesehene einzuordnen ist. Der Ansatz, der in diesem Buch vermittelt werden soll, beschäftigt sich daher mit denjenigen Merkmalen, die beim Betrachten einer Handschrift sofort ins Auges springen, etwa Format und Größe, das Pergament, Gold und das wunderschöne Blau, das so viele Miniaturen auszeichnet, oder die beinahe unsichtbaren Linien für die Schriftzeilen. Dieses Buch soll dazu beitragen, die viele Hundert Jahre alten Kunstwerke in Ausstellungen und Museen mit neugierigen Augen zu betrachten und den Blick zu schärfen für die Besonderheiten eines typisch mittelalterlichen Gebrauchsgegenstandes, der manchmal auch ein Kunstwerk sein kann.

      Doch was verstehen Historiker eigentlich unter dem Begriff Mittelalter?

      Welches Mittelalter?

      Das Mittelalter ist für Historiker die Zeitspanne, die vom Ende der Antike im 6. Jahrhundert ungefähr bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts andauerte, als Johannes Gutenberg in Mainz den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand. Zumeist wird „das Mittelalter“ im allgemeinen Sprachgebrauch und in der Forschung auf die christlich geprägte Kultur und Geschichte Europas bezogen, und so wird der Begriff Mittelalter auch in diesem Buch aufgefasst. Besprochen werden europäische Handschriften, die im weitesten Sinne dem christlichen Kontext zuzuordnen sind. Selbstverständlich entstanden auch im jüdischen und islamischen Kulturkreis in dieser Zeit wunderbare Bücher. Die Beschäftigung mit ihren Besonderheiten würde aber über den Rahmen dieses auf einen Überblick angelegten Buches weit hinausgehen.

      Der Zeitraum, der in diesem Buch besprochen werden soll, umfasst über 1000 Jahre. Wir beginnen mit dem Wechsel vom Gebrauch der Buchrolle zu dem bis heute benutzten Blätterbuch, dem sogenannten Kodex gegen Ende der Antike. In den folgenden Jahrhunderten wurden Bücher in Konstantinopel, auf den fernen schottischen und irischen Inseln, in Sizilien, in Paris, Rom, Jerusalem, Köln oder in den klösterlichen Einöden von Spanien, Südfrankreich bis Osteuropa produziert und verwendet. Gelesen, gesammelt und bestellt wurden sie von Mönchen und Nonnen, von Studenten der Universität, belesenen Damen, Gelehrten, Kaisern und Königinnen, von Adeligen oder Kaufleuten, Priestern und Bischöfen, Äbtissinen und dem Papst. All diese Benutzer und Benutzerinnen mit ihren unterschiedlichen Ansprüchen an Aussehen und Inhalt der Bücher prägten die Gestalt und Form der mittelalterlichen Handschriften entscheidend mit. In diesem Buch werden daher nicht allein Herkunft, Vorbereitung und Verwendung der Materialien, Werkzeuge und Hilfsmittel, das Schreiben und Malen bis hin zur Bindung des fertigen Buches untersucht. Denn dieser Teil der Buchherstellung ist im gesamten Mittelalter erstaunlicherweise weitgehend gleich geblieben. Stetigem Wandel unterworfen waren hingegen Arbeitsbedingungen, Berufsbild und Rollenverständnis der Buchhersteller und deren Arbeitsorte. Ebenso wandelten sich die Funktion der Bücher, ihr Gebrauch und die Bedürfnisse der Leser im Verlauf der Jahrhunderte. Das hatte wiederum Auswirkung auf die Arbeit im Skriptorium und das Aussehen der Manuskripte. Diese Veränderungen sollen ebenso zur Sprache kommen.

      Nach einem Überblick über die Vorgeschichte des Buches von der Buchrolle zum Kodex wird zunächst die Frage beantwortet, wo man Skriptorien eingerichtet hat, wie sie ausgestattet waren und wer neben den Schreibern dort noch gearbeitet hat. Danach geht es um die einzelnen Arbeitsschritte auf dem langen Weg zum fertigen Buch. Besprochen werden die nötigen Ausgangsmaterialien wie Pergament, Farben, Tinten, die Arbeitsaufteilung, die Planung und das Programm der Bücher. Es geht um Schreiben, Schrift, Schreibgeräte und Tinten, Farben, Pinsel, die Kunst der Miniaturenmalerei, die Bindung und die manchmal sehr kostbaren Buchdeckel. Das letzte Kapitel schließlich ist den Lesern, Auftraggebern und dem Verkauf der Bücher gewidmet, die nicht allein Angelegenheit der Klöster gewesen ist. Aber wer konnte im Mittelalter eigentlich lesen? Wer konnte sich die teuren Bücher leisten? Wie kamen die Klosterwerkstätten mit der weltlichen Konkurrenz zurecht? Und schließlich: Was ändert sich für Buchhersteller und Leser mit der Erfindung des Buchdrucks?

      Doch bevor wir nach Antworten auf all die angesprochenen Fragen suchen, kehren wir noch einmal zurück zu dem Mönch Johannes Myronas, der im 13. Jahrhundert in Jerusalem ein kleines Gebetbuch geschrieben hat.

      Eine sehr kurze

      Vorgeschichte des Buches

      Gebetbuch und Palimpsest

      Von der Arbeit des Mönches Johannes Myronas wissen wir heute nur deswegen, weil sein Werk durch besondere Umstände erhalten geblieben ist. Das ist nicht selbstverständlich. Denn Myronas’ euchologion ist keine Prachthandschrift wie etwa das Book of Kells, das seit jeher als besondere Kostbarkeit verehrt und gehütet wird (siehe Farbabb. S. 49). Im Gegenteil: Myronas Gebetbuch ist unscheinbar, klein und wurde auf gebrauchtem, löchrigem Pergament geschrieben. Es ist nur sparsam ausgeschmückt und dazu noch schlecht erhalten. Es handelt sich um eine jener Gebrauchshandschriften,