Schwarzer Regen Rotes Blut. Leonhard Michael Seidl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leonhard Michael Seidl
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839267967
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wirkte an diesem heutigen Tage nur deshalb wie ausgestorben, weil viele Männer im wehrfähigen Alter und darüber hinaus in Kriegsgefangenschaft geraten oder im Felde vermisst waren. Die Äcker lagen brach, die Arbeit im Stall ruhte. Die Öfen der Glashütten waren seit Langem erkaltet.

      Frauen und Kinder prägten das Ortsbild. Mühsam versuchten sie den Alltag zu gestalten. Der Kramerladen hatte wieder geöffnet. Es gab Brot und Milch, falschen Kaffee und selbst gestrickte Socken. Wer anderes wollte, musste nach Zwiesel fahren oder, wenn er es schaffte, bis nach Passau reisen.

      Der Gasthof Stormberger war ein aus der Zeit gefallenes, breit hingelagertes Gebäude mit umlaufendem Balkon im ersten Stockwerk, der bald mit roten und weißen Geranien bestückt werden sollte. Früher einmal hatte er den Stolz seiner Besitzer bedeutet. Heute aber, nach mehrmaligem Eigentümerwechsel, bedurfte die Fassade, wie auch Fenster und Türen, dringend der Renovierung.

      Die acht Zimmer waren abgewohnt gewesen; die Betten durchgelegen. Die Schränke hatten nach Moder und Mausdreck gerochen, und die Fenster waren ohne Gardinen.

      Der jetzige Besitzer Eugen Pretzlaff war im Winter 1944 aus Wien gekommen, mit nur einem Koffer in der Hand, und hatte zunächst im Anbau eine Bleibe gefunden. In den folgenden Monaten hatte er jeden Raum im Haus gereinigt, kaputtes Mobiliar, so gut es ging, repariert und aus Stoffresten händisch Gardinen genäht. Schließlich war am ersten Mai ein Schild an der Tür gelehnt, worauf geschrieben stand, dass es ab heute Bier und kleine Speisen zu vernünftigen Preisen geben würde.

      Auf einer Tafel aus Lindenholz, die über der breiten Eingangstür hing, stand der Spruch:

      Rede wenig, rede wahr, trinke mäßig, zahle bar.

      Woher Pretzlaff, der zwar gut kochte, aber wenig redete, die Mittel dazu hatte, wurde nie bekannt. Jedenfalls war der kleine Saal im Obergeschoss, wo früher Theater gespielt worden war, am Abend der Eröffnung brechend voll gewesen. Es wurde gelacht, gehandelt und gesoffen, als hätte es nie einen Krieg gegeben.

      In der großen Gaststube vom Stormberger hatte sich schon bald ein Stammtisch eingefunden, der unbedingt Friedensstimmung verbreiten wollte und sich bis zur Bewusstlosigkeit dem Kartenspiel ergab. Eine Handvoll Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg hockte hier bei einer Maß zusammen und erklärte, warum der Krieg verloren gegangen war. Dass die Niederlage vor allem ein Akt der Befreiung von der braunen Barbarei gewesen war, darauf kamen sie nicht. Ein paar Buben hatten sich dazugesellt, am Bier genippt und den Geschichten gelauscht, die die Alten erzählten. Später dann, nach der fünften Maß, erklang aus rauer Kehle nicht immer stimmsicher die bodenständige Weise von der seligen Kinderzeit im Böhmerwald, und so manche Träne rann in den steingrauen Bart der Alten.

      Was sie selbst in der braunen Zeit gemacht hatten, ob sie in der Partei gewesen waren, ob sie Nachbarn denunziert, Juden schikaniert und ausgeliefert hatten – all das war jetzt vergessen. Hier waren keine Nazis mehr. Nirgendwo in Schachtenstein. Nirgendwo im Zwieseler Winkel. Und nirgendwo mehr im ganzen Bayerischen Wald.

      Beim Stormberger gab es im Augenblick genügend leere Zimmer. Kein Monteur oder Handelsvertreter fand in diesen Tagen den Weg in das Dorf, geschweige denn ein Sommerfrischler.

      Das Problem waren die zurückkehrenden Frontsoldaten. Aus allen Richtungen kamen sie. Abgerissen, hungrig, teilweise noch in den Uniformen der Wehrmacht. Die ganz frechen Burschen trugen sogar noch ihre Waffen. Die Schachtensteiner verzogen sich in die Häuser und kamen erst wieder heraus, wenn die verlotterten Männer fort waren.

      Im Gasthaus Pfanzelt, drüben am Waldrand, war nun solch eine Gruppe Kriegsheimkehrer gestrandet und hatte dort ein furchtbares Blutbad angerichtet.

      Sofort nach seiner Ankunft war Kommissär Klemm zum Tatort geeilt und hatte die noch rauchenden Trümmer des Gebäudes in Augenschein genommen.

      Heute war Montag, der vierzehnte Mai 1945. Die Tat hatte sich am Vormittag des dreizehnten Mai ereignet. Der Mesner und Totengräber Peter Hofmann, genannt Peterl, und ein paar Freiwillige hatten die Leichen geborgen, sie zur Kirche gebracht, wo sie nun in eilig zusammengezimmerten Holzkisten nebeneinander aufgebahrt vor den Altarstufen standen. Die Deckel hatte man verschlossen, um den Besuchern den Anblick der furchtbaren Verletzungen zu ersparen.

      Pfarrer August Tecklenburg hatte sie gesegnet. Dem dreiundsechzigjährigen Mann war die Erschütterung deutlich anzusehen gewesen.

      Alles befand sich in Auflösung oder im Aufbau, je nachdem, dachte der Kommissär und spannte das nächste Blatt Papier, grau und verblichen, in die Maschine. Jahre würde es dauern, bis sich wieder eine gewisse Ordnung einstellen würde und das geschundene Land seine Ruhe fand. Im Augenblick herrschte das Recht der Sieger. Klemm hatte nichts dagegen. Sehr bald schon würde sich zeigen, was sie aus ihrem Sieg machten.

      Jedenfalls war es gut, dass der verdammte Krieg ein Ende hatte. Jetzt musste aufgeräumt werden. Auch mit den Mördern der Familie Pfanzelt.

      Nach einer halben Seite legte Klemm eine Pause ein und stand auf. Er könnte jetzt einen starken Kaffee gebrauchen, aber eine solche Köstlichkeit würde er vermutlich in ganz Schachtenstein nicht finden. Seine Vorgesetzten hatten unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat entschieden, ihn an diesen Ort zu schicken, hatten ihm zwei Zimmer im Gasthof Stormberger reserviert und ihm die Schreibmaschine in die Hand gedrückt. Ein Willys-Jeep der Amerikaner hatte ihn in den Ort gebracht und vor der Tür abgesetzt. Der junge GI hatte die Koffer hinauf in das Zimmer geschleppt und war nach Zwiesel zurückgefahren.

      Klemm war auf sich gestellt. Er hatte keine Mitarbeiter, denen er die Recherche und die Suche nach Informationen übertragen konnte. Keine Sekretärin, die die Protokolle hätte aufnehmen können. Und es gab niemanden, mit dem Klemm sich austauschen konnte.

      Der junge Schnaitz kam ihm wieder ins Gedächtnis. Josef hatte sich als Hilfspolizist mit guten Ortskenntnissen angeboten. Vielleicht sollte man auf den Burschen zurückgreifen. Aber er war nun einmal einer der an der Tat – wenn auch passiv – beteiligten Personen. Hinzu kam, dass Josef Schnaitz als einziger Zeuge des Massakers in permanenter Gefahr schwebte. Wenn ihn Klemm an sich zog, konnte er auf Schnaitz aufpassen und ihm so unter Umständen das Leben retten. Darüber musste man nachdenken, doch Klemm hasste Schnellschüsse.

      Der Kommissär gönnte sich einen Schluck Wasser und trat ans Fenster, um auf die menschenleere Straße hinunterzublicken.

      Er dachte weiter an den jungen Mann, der das Massaker überlebt hatte. Josef Schnaitz, dreißig Jahre alt, gläubiger Christ, dank Pfarrer Tecklenburg. Was an sich nichts Schlimmes war. Nur diese Fundstelle im Hohelied?

      Klemm blätterte im Protokoll und fand die entsprechende Quelle. Aus der Nachttischschublade zog er eine vergilbte Bibel. Er schlug das Hohelied auf, Kapitel vier:

      Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle, die in den Lilien weiden …

      Sein Zeigefinger rutschte ein paar Zeilen weiter:

      Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut, wie viel süßer ist deine Liebe als Wein, ein Lustgarten sprosset aus dir …

      Hier war wohl kaum vom Messwein die Rede gewesen. Und was sollte der Hinweis auf meine Schwester Braut bedeuten? War Pfarrer Tecklenburg mit Elise intim gewesen? Nun war die junge Frau tot. Die Affäre, wenn sie denn eine gewesen war, damit beendet.

      Kommissär Klemm nahm sich vor, Erkundigungen über den Priester einzuziehen. Doch alles der Reihe nach.

      Zurück zu Schnaitz. Immer wieder war er bei der Vernehmung ins Stocken geraten, hatte lange Pausen eingelegt, die Brille abgenommen, sie an einem Hemdzipfel geputzt, sie wieder aufgesetzt, um sie sogleich wieder abzunehmen und wiederum mit fahrigen Handbewegungen zu reinigen. Und immer wieder hatte er das silberne Kreuz umfangen, das er an einer Kette um den Hals trug.

      Josef Schnaitz hatte, nach eigener Aussage, viel Religion gelernt. Und das Schälen von Kartoffeln.

      Als die Rede auf Elise Pfanzelt gekommen war, brach ein Redeschwall aus Josef Schnaitz hervor. Dabei hielt er das silberne Halskreuz vor den Mund gepresst, so fest, dass man die weißen Fingerknöchel erkennen konnte. Klemm nahm sich vor, diese Beobachtung im Auge zu behalten.