In der Editio princeps bildeten die verhältnismäßig kurzen Biographien des Paolo Romano und des Chimenti Camicia keinen zusammenhängenden Text. Sie folgten jedoch unmittelbar aufeinander. Was Vasari außer der zeitlichen Koinzidenz dazu bewogen haben könnte, beide Lebensbeschreibungen trotz ihrer offensichtlichen Inkohärenz in der 1568er Ausgabe der Vite miteinander zu verknüpfen, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Denkbar wäre, daß er beides unter dem Leitmotiv der ›magnificenza‹ verstanden wissen wollte – einen Begriff, den Vasari in der 1550er Version der Chimenti-Camicia-Vita in Zusammenhang mit den für Sixtus IV. gestalteten Bauten explizit nennt und der sowohl die ungeheure Pracht und Würde von Gebäuden zum Ausdruck bringt, die beim Betrachter Staunen und Bewunderung hervorrufen sollen, als auch die Größe und Generosität des Auftraggebers widerspiegeln soll.1 In Anlehnung an Sueton hatte schon der Humanist und Historiker Raffaello Maffei in seiner 1506 erschienenen Enzyklopädie Commentariorum rerum urbanarum libri XXXVIII bemerkt, daß Papst Sixtus IV. Rom von einer Stadt aus Ziegeln in eine Stadt aus Stein verwandelt habe, so wie seinerzeit Augustus aus der vormals mit Steinen erbauten Tibermetropole eine Stadt aus Marmor gemacht hätte.2 Der Begriff der ›magnificenza‹ kommt zwar in der 1568er Version der Vita nicht mehr vor, doch hallt dessen weiter Bedeutungsraum vielerorts unterschwellig noch nach.
Unter den wenigen Werken, die Vasari dem römischen Marmorbildhauer Paolo zuschreibt, der mit Paolo Taccone identifiziert werden kann, kommt der um 1464 für Pius II. geschaffenen überlebensgroßen Statue des Apostels Paulus ein besonderer Rang zu. Sie ist gewissermaßen der Dreh- und Angelpunkt des ersten Abschnitts. Vasari erklärt sie brevi manu zum Hauptwerk Paolo Romanos, in erster Linie wohl aufgrund ihrer späteren Wertschätzung durch den Medici-Papst Clemens VII., der die hohe Qualität des seinerzeit in ›Dornröschenschlaf‹ versunkenen Werks erkannt haben soll. Ihm sei es zu verdanken gewesen, daß die Statue an den Anfang der Engelsbrücke, sozusagen ins Blickfeld der Öffentlichkeit, versetzt wurde und dort ein zwillingshaftes Pendant erhielt. Zwischen 1530 und 1534 schuf Lorenzetto im Auftrag von Clemens VII. die Marmorstatue des Apostels Petrus. Beide auf mannshohen Sockeln stehende Kolossalfiguren mit ihren als Antithese formulierten Motti »HINC RETRIBUTIO SUPERBIS« (»Von hier Vergeltung den Hochmütigen«; Inschrift der Paulusstatue) und »HINC HUMILIBUS VENIA« (»Von hier Vergebung den Demütigen«; Inschrift der Petrusstatue) dienten an der Schwelle zum Borgo Leonino als eine Art ›Grenzwächter‹ und waren zu Vasaris Zeiten nicht zuletzt durch die Verbreitung einer in Kupfer gestochenen Zeichnung Maarten van Heemskerks weit über die Grenzen Roms hinaus bekannt und berühmt.3
Die einst für Pius II. geschaffene Statue des Apostelfürsten sei, so Vasari, die Frucht eines künstlerischen Wettstreits unter den beiden Bildhauern Paolo Romano und einem gewissen Mino del Regno gewesen, eine Bezeichnung, die vielleicht seine Herkunft aus dem Königreich Neapel andeuten soll (Pepe 1966). Dieser Künstler, dessen Identität historisch nicht faßbar ist und von Vasari zuweilen mit jener des Mino da Fiesole verwechselt wird, trägt die Züge eines überheblichen, zutiefst von Neid zerfressenen Kontrahenten Paolo Romanos, während letzterer das genaue Gegenteil davon verkörpert, ja gewissermaßen als die Humilitas selbst daherkommt. Bereits in der früheren Version wurde die Vita von einem längeren moralisierenden Prolog über den angeblich von Mino ins Leben gerufenen Künstleragon eingeleitet. Der Begriff ›superbia‹ ‒ ein Laster, das in Dantes Divina Commedia als eines der schwerwiegendsten Übel gilt ‒ wird aber erst in der 1568er Edition explizit genannt und läßt in diesem Zusammenhang an eine berühmte Formulierung des Augustinus in seiner allegorischen Deutung des Kampfes zwischen David und Goliath denken »provocavit superbia humilitatem«.4 Wie zu erwarten, geht Mino, der in Konkurrenz zu Paolo wahrscheinlich eine Petrusfigur schuf, aus dem künstlerischen Kräftemessen als Verlierer hervor.5 Daß diese reizvolle Geschichte wohl Vasaris Phantasie zu verdanken ist, muß nicht eigens betont werden. Sie könnte in nuce vielleicht auf ein Relief im Tympanon von San Giacomo degli Spagnoli zurückgehen, das zwei wappenhaltende Engel und darunter die eingemeißelten Inschriften »OPUS PAULI« und »OPUS MINI« zeigt.6 Zwar wird dieses Werk mit keinem Wort in der Vita erwähnt, man darf jedoch davon ausgehen, daß dem Biographen die Fassade des Gotteshauses nicht unbekannt war, zumal er die damalige Nationalkirche der Spanier beiläufig erwähnt. Zieht man außerdem in Betracht, daß ein anderes gleichmotivisches Paar, die kolossalen Dioskuren auf dem römischen Quirinal mit ihren Sockelinschriften »OPUS FIDIAE« und »OPUS PRAXITELIS«, eine bedeutende Inspirationsquelle für die frühneuzeitliche Wettstreitkultur boten,7 so gewinnt die These unmittelbar an Überzeugungskraft. Petrarca hatte in diversen Schriften – wohl aufgrund der eingemeißelten Namen von zwei der bedeutendsten Bildhauer der Antike – die beiden zwillingshaften Rossebändiger, ihre hohe künstlerische Qualität und wohl auch ihr kolossales Erscheinungsbild als das sichtbare Resultat eines agonalen Kampfgeistes gedeutet.8 Dementsprechend könnte der Anblick der beiden kolossalen Statuen der Apostelfürsten Petrus und Paulus Vasari zu seiner kurzweiligen Anekdote inspiriert haben.
Die Paulusstatue, die mit ihrem blanken Schwert und der unter Clemens VII. angebrachten Sockelinschrift den Dargestellten als Kämpfer gegen die Hochmütigen ausweist, gerät dabei zu einem metaphorischen Selbstbildnis Paolo Romanos. Der Bildhauer trägt nicht nur den gleichen Namen wie der Heilige, Vasari dichtet ihm auch gemeinhin mit dem Apostel assoziierte Charaktereigenschaften wie Demut, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit an. Und es ist bestimmt kein Zufall, daß das der Vita vorangestellte Holzschnittbildnis des Künstlers mit der hohen, in Falten gelegten Stirn, den tiefliegenden Augen und dem Bart eine gewisse Ähnlichkeit mit den Gesichtszügen der von ihm geschaffenen Paulusfigur aufweist.9 Paolos angeblicher Widersacher, dessen Name Mino per se schon etwas Geringeres zu implizieren scheint, wird dagegen von Vasari als jemand charakterisiert, der viel weniger getaugt hätte (»Mino di molto minor valore«) und mit Worten tüchtiger gewesen sei als mit Werken (»più con le parole che con l’opre valeva«).
Daß Vasari wie Dante mit Namen eine tiefere Bedeutung verknüpft, ist in anderen Kontexten schon wiederholt betont worden und offenbart sich auch im weiteren Verlauf dieser Vita, wenn im abschließenden Teil von dem aus Florenz stammenden Architekten Baccio Pontelli die Rede ist. Schon in der Edition von 1550 war jener zum Architekten des Della-Rovere-Papstes Sixtus IV. stilisiert worden. Vasari schrieb ihm nicht nur den Neubau von Santa Maria del Popolo und des Ospedale di Santo Spirito in Sassia zu, sondern auch die Konstruktion der Vatikanischen Bibliothek, der Sixtinischen Kapelle, des Ponte Sisto und aller Kirchen, die der Papst anläßlich des Heiligen Jahres 1475 angeblich wiederherstellen oder neu errichten ließ. Diese in der ersten Ausgabe im einzelnen nicht aufgeführten Kirchenbauten ergänzt Vasari später durch die Nennung von Santi Apostoli, San Pietro in Vincoli und San Sisto, allesamt Kirchen, die zwar nicht unmittelbar vom Papst in Auftrag gegeben wurden, wie Vasari behauptet, die aber seinerzeit unter der Obhut zweier bedeutender Kardinäle standen, Pietro Riario und Giuliano della Rovere, beides Neffen von Sixtus IV.10 Sosehr Vasari hinsichtlich der Datierung dieser Werke im großen und ganzen recht zu geben ist, so wenig darf man ihn wörtlich nehmen, wenn es um die Zuschreibung der genannten Werke an Baccio Pontelli geht. Dokumente bezeugen, daß sich der Künstler in den 1470er Jahren in Pisa aufhielt, wo er sich als legnaiuolo seinen Lebensunterhalt verdiente, und daß er vor 1480 kaum Gelegenheit gehabt haben dürfte, Rom kennenzulernen, geschweige denn sich als päpstlicher Architekt einen Namen zu machen. Für Sixtus IV. persönlich war Pontelli in Wirklichkeit so gut wie gar nicht tätig. Die einzige in dieser Hinsicht bezeugte Tätigkeit ist die Inspektion der Festung von