1.4 Was ist für die Prognose von Kindern mit ASS wichtig?
Für die Prognosestellung eines Kindes mit autistischem Verhalten ist es wichtig zu wissen, wie schwerwiegend die autistische Symptomatik ist und ob die mit ihr verknüpften Probleme therapierbar sind. Daneben sind entscheidende Kriterien, wie das Entwicklungsniveau des Kindes ist, ob es funktionale Sprache vor dem Alter von fünf Jahren entwickelt, ob organische Probleme bestehen wie zum Beispiel ein Anfallsleiden und wie sich die therapeutischen, schulischen und familiären Umstände darstellen. Im Allgemeinen gilt eine leichte autistische Problematik als prognostisch günstig bei Kindern mit normaler Intelligenz, funktionaler Sprache, intensiver Förderung zwischen zwei und vier Jahren und Unterstützung durch Therapeuten, Lehrer und Familienmitglieder (Lovaas, 1987; Howlin, 1997; Howlin, Magiati & Charman, 2009). Retrospektive Videoaufnahmen zeigten, dass Kinder mit guter Prognose im Vergleich zu Kindern mit schlechter Prognose bereits bei den Erstaufnahmen spontane Sprache zeigten (Prizant & Wetherby, 1998).
Prognosekriterien für die Entwicklung von Kindern mit ASS
Autistisches Verhalten
Spezielle Defizite und Fähigkeiten
Organische Auffälligkeiten
Komorbide Auffälligkeiten
Familie und Fördermöglichkeiten
Für Individuen am oberen Ende des Autismus-Spektrums waren bisherige Untersuchungen zur Vorhersage der Entwicklung nicht eindeutig. Bei einer Langzeituntersuchung von Farley et al. (2009) von 41 Betroffenen mit normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz zwischen dem durchschnittlichen Alter von 7,2 Jahren zu Beginn der Studie und durchschnittlich 32,5 Jahren am Ende der Untersuchung wurde die Hälfte der Betroffenen als »sehr gut« bzw »gut« eingestuft. Hierbei standen die Diagnose, die kognitiven Fähigkeiten sowie die Selbständigkeit im Vordergrund. Auch innerhalb dieser Gruppe gab es jedoch erhebliche Variation, was voraussichtlich nicht unwesentlich an der Art der therapeutischen Hilfen, dem sozialen Umfeld und den beruflichen Chancen liegt.
Mittlerweile liegen zahlreiche Bücher von Individuen am oberen Ende des Autismus-Spektrums vor, die erfolgreiche berufliche Karrieren gemacht haben, verheiratet sind und sogar Kinder haben (Grandin, 1996). Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Betroffenen selbst mit hohem IQ erhebliche Nachteile bei der Berufsfindung, der sozialen Integration und der Lebensqualität haben (Howlin & Moss, 2012).
1.4.1 Fähigkeits- statt defizitorientiertes Vorgehen
Aber auch in dem Fall, dass die Ausgangs- und Rahmenbedingungen nicht optimal sind, ist es für die Betroffenen mit ASS wichtig, dass ihr familiäres, soziales und therapeutisches Umfeld nicht ihre Schwächen, sondern ihre Fähigkeiten betont und ihre Stärken in die Förderung einbezieht. Weitaus bedeutsamer, da erfolgsversprechender ist es zum Beispiel, ein Kind darin zu bestärken, komplexe Puzzle zu lösen, andere Kinder nachzuahmen, sich spontan mitzuteilen oder auch nur beim »Kuckuck-Bah/Da-Spielen« den Partner anzulächeln, als stattdessen mit endlosen Listen seines Nicht-Könnens alle Beteiligten zu entmutigen. Da positives Denken der Eltern einen entscheidenden Einfluss auf die Prognose des Kindes hat (Durand, 2004), sollten auch die Einstellungen der Eltern und die Fördermöglichkeiten des sozialen Umfeldes mit in die Therapieplanung einbezogen werden. Das Vorhandensein von jüngeren oder gleichaltrigen Modellen und das Spielen mit anderen Kindern ist in vielen Fällen hilfreich (Schuler & Wolfberg, 2000, Wolfberg, 2019).
Auch bei Jugendlichen am oberen Ende des Spektrums sollten Fähigkeiten wie detaillierte Computerkenntnisse, ein gutes Gedächtnis oder unbedingte Ehrlichkeit betont werden statt die Defizite in den Vordergrund zu stellen. Der Einbau von Sonderinteressen in schulische, berufliche oder soziale Ziele ist dabei oft sehr hilfreich. Daneben sollten erste Schritte des Jugendlichen zur Flexibilität, zum Umgang mit Stress, sowie angemessenem Sozialverhalten verstärkt bzw gezielt angeregt werden (Buron et al., 2012; Baker 2017, Mataya, Aspy & Shaffer, 2017; Bernard-Opitz, 2018).
Fallbeispiel 1
So fällt Andy das Addieren plötzlich leicht als er statt neutraler Mengenbilder seine geliebten Luigi-Cartoon-Abbildungen zusammenzählen darf.
Fallbeispiel 2
Svenja war schon als Kind von Buchstaben und Reihenfolgen fasziniert. Nun ist sie in ihrem ersten Praktikum begeistert, CDs und Bücher alphabetisch anordnen zu dürfen.
1.5 Zusammenfassung
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) umfassen ein Kontinuum an Verhaltensauffälligkeiten, die sich in Ausprägung, Schweregrad und Prognose erheblich unterscheiden. Die Diagnose einer autistischen Störung erfolgt durch Fragebogenerhebung und Beobachtung. Wichtig für die Prognose und Therapieplanung ist das Verständnis von Verhaltensauffälligkeiten und das Erstellen eines Intelligenz- und Fähigkeitsprofils. Frühkindlicher Autismus geht in vielen Fällen mit anderen Problemen einher wie Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs-, Organisations- oder Schlafstörungen. Eine medikamentöse Behandlung kann in einigen Fällen zusätzlich zu strukturierten und sensomotorischen Therapien sinnvoll sein. Statt Defizite zu betonen, sollten auch bei Betroffenen am oberen Ende des Autismus-Spektrums Fähigkeiten aufgegriffen und gezielt verstärkt werden. Einen günstigen Einfluss auf die Prognose hat auch eine positive Einstellung der Eltern und der sozialen Umwelt.
2 Welche Therapieansätze gibt es?