Erneut bin ich dabei sehr dankbar für die Anregungen von Kollegen, die Alltagsideen von Eltern, Lehrern und Co-/Therapeuten, Schulbegleitern und Betroffenen und nicht zuletzt dem engagierten Team des Kohlhammer Verlags. Ich hoffe, dass auch die neuen Zeichnungen meiner Tochter Andra dazu beitragen, dieses Buch anschaulich zu machen und dass Sie als Leser es gerne in die Hand nehmen.
Irvine, Juni 2020 | Vera Bernard-Opitz |
1 Bisherige Veröffentlichungen der Praxisserie: AutismusKonkret, Kohlhammer Verlag (Hrsg. Vera Bernard-Opitz):
Einleitung
Frühkindlicher Autismus ist ein Krankheitsbild, dessen Diagnose in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen hat. Während man noch 1968 von vier autistischen Kindern auf 10.000 ausging, hat sich diese Zahl im Jahr 2000 nach Schätzung einiger Autismusspezialisten um 200 % auf mehr als ein autistisches Kind per 1000 erhöht. und im Jahr 2010 auf eins in 68 (CDC, 2010). Es wird kontrovers diskutiert, ob die beobachtete Zunahme durch eine Verbesserung und Ausweitung der Diagnose bedingt ist oder ob es sich um eine tatsächliche Erhöhung autistischer Störungen handelt (Fombonne, 1999; California Department of Developmental Services, 2000). Auch wenn es in Deutschland keine epidemiologischen Daten zum Autismus gibt, weisen die Wartezeiten bei Spezialeinrichtungen und Therapeuten auf eine deutliche Zunahme dieses Krankheitsbildes hin.
Was sind Autismus-Spektrum-Störungen (Abk.: ASS) und wie können sie am erfolgreichsten behandelt werden? Diese Frage von Eltern und Therapeuten wird im vorliegenden Therapieleitfaden behandelt. Im praktischen Teil des Buches wird ein verhaltenstherapeutisches Trainingsprogramm dargestellt. Dieses ist speziell für junge Kinder mit autistischem Verhalten und assoziierten Problemen wie Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität sowie Lernproblemen geeignet. Wir haben jedoch in der nun vorliegenden 4. Auflage auch Kinder und Jugendliche am oberen Ende des Spektrums mit ASS mitberücksichtigt und auf Interventionsmöglichkeiten für diese Gruppe hingewiesen.
Das Trainingsmanual beruht auf dem aktuellen internationalen Wissensstand im Bereich der Therapie autistischer Kinder und Jugendlicher. Fallbeispiele aus langjähriger Erfahrung in Deutschland, Singapur und Kalifornien mit mehr als 1000 autistischen Kindern in Frühförderstellen, Spezialschulen, Ambulanzen, Reha-Einrichtungen und einer Universitätsklinik werden behandelt. Empirisch fundierte Methoden und Curricula werden in überschaubarer Weise dargestellt, wobei für die Gruppe der Betroffenen mit hohem Funktionsniveau in Methoden der kognitiven Verhaltensmodifikation eingeführt wird.
Individuen mit Autismus-Störungen zeigen eine Vielzahl von Verhaltens-, Motivations- und Lernproblemen, denen weder undifferenziert ganzheitliche Therapieansätze noch eingleisige Interventionen mit Universalanspruch gerecht werden. Wir zeigen demgegenüber auf, dass eine erfolgreiche Therapie einen klar strukturierten, durchsichtigen Prozess voraussetzt. Hierbei stehen die Probleme des individuellen Kindes, seine Interessen und Fähigkeiten im Zentrum. Meist müssen verschiedene Therapiemethoden miteinander kombiniert werden. Aus der Verhaltensanalyse und individuellen Fähigkeitsprofilen werden dabei konkrete Therapievorschläge abgeleitet. Es wird an Beispielen aufgezeigt, dass die Intervention direkt auf den Ergebnissen der diagnostischen Erfassung aufbauen sollte.
Therapieansätze, die Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten nachgewiesenermaßen helfen, werden verglichen. An Beispielen werden neue verhaltenstherapeutische Methoden, Präzisionslernen, erfahrungsorientiertes Lernen, visuelle Strategien wie das Handzeichentraining, das Bildaustauschprogramm PECS, das TEACCH-Training sowie bebilderte Handlungspläne dargestellt. Programme zur Selbstkontrolle, dem »anders denken lernen« (Baker, 2017) dem Problemlösen und der Flexibilität werden zusammengefasst. Dieses Buch hilft Eltern und Therapeuten, durch Beispiele von Aufgabenabfolgen Trainingsprogramme zu planen und in strukturierter Weise durchzuführen. Dabei werden konkrete Hilfen für eine intensive Förderung zu Hause gegeben.
1 Was sind Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
1.1 Was versteht man unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
1.2 Wie wird die Diagnose von ASS erstellt?
1.2.1 Besteht eine Autismus-Spektrum-Störung?
1.2.2 Wie ist der Entwicklungsstand und die Intelligenz?
1.2.3 Welche zusätzlichen Probleme bestehen?
1.3 Welche frühen Anzeichen für ASS gibt es?
1.4 Was ist für die Prognose von Kindern mit ASS wichtig?
1.4.1 Fähigkeits- statt defizitorientiertes Vorgehen
1.1 Was versteht man unter Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)?
Seit der Erstbeschreibung des frühkindlichen Autismus durch Leo Kanner 1943 haben sich die diagnostischen und therapeutischen Ansätze beim Autismus stark geändert (Kanner, 1943; Asperger, 1944; Lovaas, 1968; Lovaas & McEachin,1993; Lord & Schopler, 1994; Maurice et al., 1996; Prizant et al., 1997; Koegel et al., 1998; Aspy & Grossmann, 2007; Bölte, 2009). Autismus wird derzeit als schwerwiegende Störung angesehen, die weite Bereiche der kindlichen Entwicklung betrifft. Der Begriff »Autismus-Spektrum-Störungen« (Abk.: ASS) verdeutlicht, dass ein Kontinuum von Symptomen und Schweregraden zu diesem Krankheitsbild gehört (Wing & Gould, 1979; Wing, 1988; NIMH, 2004; Kaufmann, 2012).
ASS sind bei verschiedenen Personen unterschiedlich ausgeprägt und verändern sich oft bei ein und demselben Kind im Laufe seiner Entwicklung. Es gibt kein einziges Verhalten,