Hexenglut. Historischer Kriminalroman.. Simone Dorra. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simone Dorra
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783842522862
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darum, Euch zu beeilen, da sie noch vor der Terz das Kloster für den Rest des Tages verlassen muss.«

      Die Terz war das Stundengebet, das täglich um neun Uhr morgens stattfand. Fidelitas warf einen Seitenblick auf den Horizont, der inzwischen ganz hell geworden war; die frühe Sonne ließ die regennassen Rasenflächen zwischen den Grabsteinen blassgolden aufglitzern.

      »Dann«, meinte sie, »sollte ich mich wohl besser beeilen.« Sie schenkte Margaretha ein rasches Lächeln. »Und du lässt bis zur Terz den Kessel nicht aus den Augen und rührst ihn regelmäßig durch, damit der Sirup keine Kristalle bildet.«

      »Selbstverständlich, Schwester.«

      Fidelitas eilte an der jungen Novizin vorbei. Das Quartier der Äbtissin befand sich in einem seitlich versetzten Nebengebäude, in bequemer Nähe zur Kirche. Sie öffnete die kleine Seitenpforte, die hineinführte; bei den letzten paar Schritten durch den Flur umrundete sie den Eimer einer jungen Magd, die mit einer Bürste den Steinboden scheuerte. Zwar wurden die Nonnen in Frauenalb strikt dazu angehalten, die Regeln des Heiligen Benedikts zu befolgen und nicht nur zu beten, sondern durchaus auch zu arbeiten, aber für die wirklich groben Dienste gab es Gesinde.

      Sie grüßte das Mädchen freundlich und bekam einen scheuen Gruß zurück, und dann klopfte sie an die vertraute, mit Schnitzereien geschmückte Tür.

      »Ehrwürdige Mutter? Ich bin es – Fidelitas.«

      »Komm herein.«

      Die Äbtissin saß hinter ihrem Schreibtisch direkt neben einem großen Ostfenster. Helles Sonnenlicht fiel auf die viereckig zugeschnittenen Pergamentbögen, die vor ihr gestapelt lagen; in einem Tintenfass steckte eine Schwanenfeder.

      »Guten Morgen, meine Tochter«, sagte sie ruhig. »Steht bei deinen Kesseln und Phiolen alles zum Besten?«

      Fidelitas lächelte. »Wegen Margaretha, meint Ihr? Keine Sorge – sie macht sich sehr gut. Außerdem ist sie die geborene Gärtnerin. Was sie sät oder pflanzt, das gedeiht, und sie hegt jeden Setzling so liebevoll wie eine Mutter ihr Neugeborenes.«

      »Dann hat sie endlich ihren Platz in unserer Gemeinschaft gefunden?« Die Äbtissin betrachtete sie aufmerksam. »Ich muss sagen, das erleichtert mich. Mir ist schon aufgefallen, dass wir in den letzten Monaten weniger zerbrochenes Essgeschirr und weniger haarsträubende Missgeschicke zu beklagen hatten. Das tut dem lieben Kind sicher so gut wie uns allen. – Aber deswegen habe ich dich nicht hergerufen.«

      Sie faltete die Hände auf dem Tisch vor sich.

      »Wie würdest du das Befinden von Herrn Stöcklin einschätzen? Ist er gesund genug, um nach Hause zurückzukehren? Er hat mich gestern aufgesucht, und mir scheint, er ist ein wenig ungeduldig.«

      »Das kann ich mir vorstellen.« Fidelitas nickte. »So lange von daheim entfernt und von seinen Lieben getrennt zu sein, das muss ihm schwerfallen.«

      »Richtig. Obendrein macht er sich Sorgen um seine Geschäfte. Er hat mir gegenüber erwähnt, dass sein Tuchhandel in Freiburg im Moment von seiner Mutter geführt wird, und er brennt darauf, ihr die … äh … Zügel wieder aus der Hand zu nehmen. So schnell wie möglich.«

      In den Augen der Äbtissin funkelte ein kleines, ironisches Licht, und plötzlich hatte Fidelitas eine ziemlich genaue Ahnung davon, wie sie sich die Mutter des Kaufmannes vorstellen musste. Vermutlich kam der Gevatterin Stöcklin die lange Abwesenheit ihres Sohnes durchaus gelegen … und der fürchtete nun, dass sie die Herrschaft ganz an sich riss.

      »Das Bein ist gut verheilt«, erklärte sie. »Ein wenig empfindlich vielleicht, und er sollte es besser noch nicht allzu lange belasten, aber er ist gewiss reisefähig.«

      »Schön.« Die Äbtissin wirkte zufrieden. »Dann können wir ihn wohl ziehen lassen.«

      Fidelitas neigte den Kopf. »War das alles, Ehrwürdige Mutter?«

      »Nicht ganz.« Die Äbtissin lehnte sich zurück und musterte sie scharf. »Er hat mich um einen Gefallen gebeten. Offenbar hast du mit deinen Kenntnissen und deiner Pflege großen Eindruck auf ihn gemacht. Und jetzt wünscht er sich, dass du ihn nach Freiburg begleitest.«

      Fidelitas fuhr zusammen.

      »Ich? Aber was soll ich denn in Freiburg?«

      »Herr Stöcklin hat eine kranke Frau«, meinte Katharina von Bettendorf gelassen. »Sie ist seit Jahren schwächlich, und kein Medikus konnte bislang dauerhaft eine Besserung ihres Zustandes herbeiführen. Er hofft, dass du dank deiner Erfahrung die rechten Kräuter und Heilmittel findest, um ihr zu helfen.«

      Fidelitas spürte, wie sich ihr Rückgrat versteifte. Die bloße Vorstellung, das Kloster zu verlassen, bereitete ihr fast körperliche Schmerzen. Aber dann erinnerte sie sich an die rheumatischen Beschwerden, unter denen die Äbtissin regelmäßig litt, und griff danach wie nach einem rettenden Strohhalm.

      »Wenn Eure Hand- und Kniegelenke sich wieder fiebrig entzünden«, gab sie zu bedenken, »wer sorgt dann für Euch?«

      Katharina von Bettendorf lächelte leicht ironisch; Fidelitas begriff, dass ihre Finte durchschaut worden war.

      »Deine Lager sind gut gefüllt und deine Aufzeichnungen leicht verständlich. Unsere Infirmarin Schwester Maria Curatia kennt sich außerdem genügend mit der Kräuterkunde aus, um dich zu vertreten. Sollten meine unerfreulichen Gelenkschmerzen zurückkommen, weiß sie, wo sie deinen Weidenrindenextrakt findet.«

      »Herr Stöcklin könnte mir die Anzeichen der Krankheit beschreiben, und ich könnte ihm eine passende Kräutermischung mitgeben.« Es war der letzte Versuch, dem Unvermeidlichen zu entgehen.

      Die Äbtissin legte die Fingerspitzen aneinander und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

      »Ohne seine Frau je untersucht zu haben?«, fragte sie milde. »Ohne genau zu wissen, was ihr fehlt? Das wäre doch sicher ein wenig fahrlässig, meinst du nicht?«

      Fidelitas biss sich auf die Lippen. »Natürlich, Ehrwürdige Mutter.«

      »Überdies hat Herr Stöcklin dem Kloster eine stattliche Summe angeboten, wenn wir bereit sind, für – sagen wir – fünf oder sechs Wochen auf dich zu verzichten. Das sollte dir genügend Zeit geben, um die Natur ihrer Krankheit gründlich genug zu studieren und mit Gottes Hilfe das rechte Mittel zu finden, das sie wieder gesund macht. Immer gesetzt den Fall, ein solches Mittel gibt es.«

      »Was ich nicht versprechen kann.« Fidelitas seufzte. Sie erkannte den in beharrliche Freundlichkeit gekleideten Befehl mehr als deutlich. »Es ist Euer Wunsch, dass ich nach Freiburg gehe.«

      »Ganz recht. Herr Stöcklin wird übermorgen abreisen; wir stellen ihm einen Wagen zur Verfügung und werden ihm ein paar kräftige Knechte zur Begleitung mitgeben, damit er heil in Freiburg ankommt. Und du ebenfalls.«

      Der Blick der Äbtissin wurde sanft.

      »Keine Sorge – Maria Curatia wird sich auch um Schwester Margaretha kümmern.« Ihre Lippen kräuselten sich humorvoll. »Aber selbst wenn es uns gelingt, deine Abwesenheit ohne nennenswerte Zwischenfälle zu überstehen, werden wir uns sehr freuen, dich nach erfüllter Aufgabe daheim willkommen zu heißen.«

      »Genauso wie ich, Ehrwürdige Mutter.« Fidelitas verneigte sich und ging hinaus, den Kopf gesenkt.

      Bis zur Terz war es noch eine knappe halbe Stunde. Sie stellte fest, dass es sie nicht in die Kirche zog, um für eine sichere Reise zu beten. Stattdessen verließ sie das Hauptgebäude, eilte durch den Kreuzgang und am Friedhof vorbei und hatte endlich ihren geliebten Kräutergarten erreicht.

      Margaretha war nirgendwo zu sehen, und in diesem Moment empfand Fidelitas große Dankbarkeit dafür. Sie wollte keinerlei Fragen beantworten oder gar die junge Novizin beruhigen müssen – denn die würde bei der Aussicht, wochenlang ohne ihre Lehrmeisterin auskommen zu müssen, vermutlich in Panik geraten.