Die Pickwickier. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961183319
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keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit ihm verkehren; viele fürchteten ihn, aber alle verabscheuten ihn, und so wurde er denn von jedermann gemieden.

      Dieser Mann nun hatte ein Weib und einen Sohn, der zu der Zeit, als ich hierherkam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie sie ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel möge mir verzeihen, wenn ich dem Manne Unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes und, wie unglaublich es auch klingen mag, um seines Vaters willen; denn so roh er auch war und so grausam er sie behandelte, so hatte sie ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrer Brust, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß bei dem Weibe findet.

      Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte –, doch rastlose Arbeit und angestrengter Fleiß der Frau wendeten gänzlichen Mangel ab. Leider wurden ihr ihre Bemühungen übel vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeizugehen pflegten, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern der Frau und das Geräusch von Schlägen gehört, und mehr als einmal hatte der Knabe, lange nach Mitternacht noch, an einem Nachbarhause geklopft, um vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters Schutz zu suchen.

      Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die häufig die Spuren der Mißhandlungen nicht ganz verbergen konnte, regelmäßig unsre kleine Kirche. Jeden Sonntag, beim Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle, und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber und reinlich. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstliches Wort für die arme Frau, und wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienst unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehenblieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln oder mit all dem Stolze und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen verzehrtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich, doch ruhig und zufrieden aus.

      So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jüngling herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wanken gemacht; aber der, der sie hätte stützen sollen, ging nicht mehr an ihrer Seite; der ihr hätte ein Trost sein sollen, kümmerte sich nicht um sie. Immer noch hatte sie ihren alten Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie früher in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie wich ihren Grüßen aus mit abgewendetem Gesicht. Nie mehr blieb sie unter den Ulmenbäumen stehen, um von künftigem Glück zu träumen.

      Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte bald voll sein. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden; da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte ein mit beispielloser Frechheit verübter Raubüberfall eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Der Verdacht fiel auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt, für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.

      Der wilde, durchdringende Schrei der Mutter, der durch den Gerichtssaal tönte, als der Richterspruch gefällt wurde, klingt noch heute in meinen Ohren. Er erfüllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verhandlung und sogar das Todesurteil keinen Eindruck gemacht hatten, mit Schrecken und Entsetzen. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich, das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. An allen Gliedern zitternd, wankte er in den Kerker zurück.

      In den ersten Ausbrüchen ihrer Seelenangst warf sich die leidende Mutter zu meinen Füßen auf die Knie und flehte inbrünstig zum Allmächtigen, der ihr bisher in all ihren Trübsalen beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu retten. Ein Ausbruch von Schmerz und ein Seelenkampf folgten, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu hören hoffe. Ich sah, daß ihr das Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals kam eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.

      Es war ein trauriger Anblick, das arme Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz ihres verstockten Sohnes mit heißen Bitten zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehnjährige Deportation vermochte seine Verstocktheit auch nur einen Augenblick zu beugen.

      Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie so lange aufrechterhalten hatte, vermochte den Verfall ihres Körpers nicht aufzuhalten. Sie wurde krank. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie, und sie sank ohnmächtig zu Boden.

      Jetzt wurde die Gleichgültigkeit des jungen Mannes, mit der er geprahlt hatte, wirklich auf die Probe gestellt, und die Vergeltung, die über ihn kam, war derart, daß es ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht dagewesen, der nächste ging vorüber, und wieder kam sie nicht; der dritte Abend erschien, und noch immer hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer. Welch lang vergessene Erinnerungen an die Tage seiner Kindheit mußten in seinem Geiste aufgetaucht sein, als er in seiner schmalen Zelle auf und ab raste, als könnte seine fiebernde Ungeduld die ersehnte Nachricht um so schneller herbeiführen, und wie bitter mußte das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit sein, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die ihn je geliebt, lag krank danieder – vielleicht in den letzten Zügen –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt; wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung und stemmte sich gegen die dicke Mauer wie ein wildes Tier, aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Und dann rang er die Hände und weinte wie ein Kind.

      Ich brachte ihm den Segen seiner Mutter ins Gefängnis, und ihr, der Kranken, seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung an das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wolle, wenn er nur erst zurückgekehrt wäre, aber ich wußte, daß sie schon lange aus der Welt geschieden sein würde, wenn er den Ort seiner Bestimmung erreicht hätte.

      Er wurde bei Nacht weggebracht. Wenige Wochen nachher schwang sich die Seele der Armen, wie ich zuversichtlich hoffe und glaube, zu den Gefilden der ewigen Seligkeit und Ruhe empor. Ich hielt den Leichengottesdienst. Sie liegt auf unserm kleinen Kirchhofe. Kein Stein erhebt sich über ihrem Grabe. Was sie gelitten hat, das wissen die Menschen, ihre Seelenstärke kennt Gott allein.

      Es war vor der Deportation des Gefangenen ausgemacht worden, daß er unter meiner Adresse an seine Mutter schreiben sollte, sobald er die Erlaubnis dazu erhalten würde. Der Vater hatte sich von dem Augenblicke der Verhaftung an aufs entschiedenste geweigert, seinen Sohn zu sehen, und es war ihm gänzlich gleichgültig, ob er hingerichtet oder begnadigt werden würde. Eine Reihe von Jahren ging vorüber, ohne daß ich Nachricht von dem Sträfling erhielt, und als mehr als die Hälfte seiner Strafzeit verflossen war und ich noch immer keinen Brief bekommen hatte, vermutete ich, er wäre gestorben, was ich beinah auch hoffte.

      Edmunds war bei seiner Ankunft in der Strafkolonie weit in das Innere des Landes verschickt worden, und diesem Umstände war es wohl zuzuschreiben, daß, obgleich er viele Briefe an mich abgeschickt hatte, doch keiner in meine Hände kam. Die ganze Zeit seiner Verbannung blieb er an demselben Orte. Nach Ablauf derselben kehrte er, seinem Entschlüsse und dem Versprechen, daß er seiner Mutter gegeben hatte, getreu, unter den größten Entbehrungen nach England zurück und gelangte zu Fuß in seinem Geburtsorte an.

      An