Denn sie hatten noch nicht die Schrift verstanden, dass er von den Toten auferstehen müsse.
Dann kehrten die Jünger wieder nach Hause zurück.
Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Während sie weinte, beugte sie sich in die Grabkammer hinein.
Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen dort, wo der Kopf, den anderen dort, wo die Füße des Leichnams Jesu gelegen hatten.
Die Engel sagten zu ihr: Frau, warum weinst Du? Sie antwortete ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben.
Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war.
Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen.
Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister.
Jesus sagte zu ihr: Rühre mich nicht an; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.
Maria von Magdala kam zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte.26
Wie wird dieser einzigartige Augenblick, dieses Dasein ohne Da-sein Christi, dieses Dasein*, das kein Da-sein* ist, dieses Fort/Da-Sein* Christi, der gestorben ist, aber nicht tot ist, der lebendig tot/tot lebendig [mort vivant] ist, der wiederauferstanden, aber noch nicht erhöht ist, der hier ist, ohne hier zu sein, hier, aber da [là], dort [là-bas] (fort*, jenseits*), das heißt bereits jenseits, noch ohne jenseits, im Jenseits zu sein, wie wird dieser Moment, diese einzigartige Zeit, die nicht zum gewöhnlichen Ablauf der Zeit gehört, wie wird diese Zeit ohne Zeit sowohl im Tod als Verurteilung zum Tode (als Todesstrafe), im Tod des zum Tode Verurteilten bedeutet, aber auch im Diskurs oder im Bericht, im gewöhnlichen, öffentlichen oder medialen Sprechen, und zuallererst in der Literatur, und hier zum Beispiel im Text von Genet, in seiner poetischen Zeit wie in der Zeit selbst, die – in einer „Geschichte“ (dem, was Genet eine „Geschichte“ und eine „nicht immer künstliche“ Geschichte nennen wird) – den zum Tode Verurteilten an den Evangelisten bindet, an die Rede des Überbringers der Botschaft, der im Übrigen um Vergebung bitten wird? Ich werde Auszüge aus einer langen Passage vorlesen (man müsste alles lesen, oder wiederlesen, Sie sollten es tun), bis zu einer Stelle, an der wir, neben dem „Vergebt mir!“, auf einen Satz stoßen, der vom zum Tode Verurteilten (Weidmann) sagt, dass er ebenfalls jenseits, darüber hinaus sei, wie Christus, einmal von den Leinenbinden entbunden.
Lesen und kommentieren Notre-Dame-des-Fleurs, S. 9-10 und 12-13 [deutsch: a.a.O., S. 7-8 und 12-14].
Weidmann, den Kopf umwickelt mit weißen Leinenbinden, Nonne oder verletzter, in Roggenfelder gefallener Flieger, erschien Euch in einer Fünf-Uhr-Ausgabe an einem Septembertag ähnlich dem, an dem der Name von Notre-Dame-des-Fleurs bekannt wurde. Sein schönes Gesicht stürzte, von Maschinen vervielfältigt, auf Paris und Frankreich herab, in die hintersten Winkel vergessener Dörfer, in Schlösser und Hütten, und enthüllte bekümmerten Bürgern, daß ihr Alltag von verzauberten Mördern gestreift wird, die eine tückische, einverstandene Dienstbotentreppe geräuschlos bis an ihren Schlaf führt, durch den sie hindurchschreiten. Unter seinem Bild erstrahlten wie Morgenröte seine Verbrechen (Mord eins, Mord zwei, Mord drei – bis sechs), verkündeten seinen heimlichen Ruhm und bereiteten seinen künftigen Ruhm vor.
Kurz zuvor hatte der Neger Ange Soleil seine Geliebte getötet.
Kurz darauf ermordete der Soldat Maurice Pilorge seinen Geliebten Escudero, um ihm etwas weniger als tausend Francs zu stehlen, dann schnitt man ihm zu seinem zwanzigsten Geburtstag den Hals durch, als er gerade, Ihr erinnert euch, dem wütenden Henker eine Nase drehte.
Ein Fähnrich zur See schließlich, ein Kind noch, verriet um zu verraten: man füsilierte ihn. Zu Ehren ihrer Verbrechen schreibe ich mein Buch.
Diese wunderbare Pracht schöner und düsterer Blüten erfuhr ich nur in Bruchstücken: auf einem Zeitungsausschnitt, durch eine beiläufige Erwähnung meines Anwalts oder durch die Sträflinge, die davon sprachen, sangen – einen phantastischen Trauergesang (ein De Profundis), wie die Klagelieder, die sie abends anstimmen, oder die Stimme, die durch die Zellen dringt, und verwirrt, verzweifelt, entstellt zu mir gelangt. Am Ende der Phrasen bricht sie, und dieser Sprung macht sie so sanft, als wäre sie von Engelsmusik getragen – doch davor graust mir; denn die Engel grausen mich, ich stelle sie mir so vor: weder Geist noch Materie, weiß, dunstförmig und erschreckend wie der durchsichtige Körper von Gespenstern.
[…]
Mit Hilfe meiner unbekannten Geliebten werde ich also eine Geschichte schreiben. Die dort an der Wand kleben, sind meine Helden – und ich, der Eingesperrte. Wenn Ihr weiterlest, werden die Personen, auch Divine und Culafroy, aus der Wand auf meine Seiten fallen wie welke Blätter, um meine Erzählung zu düngen. Ihr Tod – muß ich es noch sagen? Sie alle werden den Tod Weidmanns erleiden, der – als er durch das Schwurgericht von seinem erfuhr – sich begnügte, mit rheinländischem Akzent zu murmeln: „Darüber bin ich schon hinaus“ (Weidmann).
Es ist möglich, daß diese Geschichte nicht immer künstlich erscheint und daß man gegen meinen Willen die Stimme meines Blutes darin erkennt: dann bin ich nachts mit der Stirn gegen eine Tür gestoßen und habe mich von einer furchterregenden Erinnerung befreit, die mich seit Anbeginn der Welt verfolgt. Vergebt mir. Dieses Buch soll nur eine Parzelle meines inneren Lebens sein.
[…]
Divine starb gestern in einer Lache von so rotem erbrochenem Blut, das sie sterbend – in einer letzten Täuschung – für ein sichtbares Gegenstück zu dem schwarzen Loch hielt, auf das die aufgeschlitzte Geige, in einem Gewirr von Beweisstücken, auf dem Tisch des Untersuchungsrichters mit dramatischer Inbrunst zeigte – so wie ein Jesus auf den vergoldeten Schanker deutet, in dem sein Geheiligtes Herz brennt. Das war die göttliche Seite ihres Todes. Für uns dagegen hatte ihr Tod die Bedeutung eines Mordes – wegen der Blutströme auf Hemd und Laken (die Sonne war in ihrem Bett untergegangen, auf den blutigen Laken, packend, nicht etwa perfide).
Divine starb als Heilige und ermordet (durch die Schwindsucht).27
Anschließend den Anfang von Das Wunder der Rose lesen, S. 223-224 [deutsch: a.a.O., S. 5-7].
Während das Kind, das ich mit fünfzehn Jahren war, sich in seiner Hängematte um einen Freund schlang (wenn die Härten des Lebens uns zwingen, uns eine gegenwärtige Freundin zu suchen, so sind es, glaube ich, die Härten der Zwangsarbeit, die uns zueinanderführen in einer entscheidenden Liebe, ohne die wir nicht leben können: das Unglück selbst ist der Liebestrank), wußte es bereits, daß seine endgültige Gestalt hinter diesen Mauern lag und daß dieser dreißigjährige Häftling die äußerste Verwirklichung seiner selbst war, die letzte Wandlung, die der Tod beenden würde. Schließlich aber erstrahlte Fontevrault in dem blassen und sanften Schein des Lichtes, das – in seinem dunklen Innern, in seinen Kerkerzellen – von Harcamone ausging, dem zum Tode Verurteilten.
Als ich aus der Santé fortkam, um nach Fontevrault gebracht zu werden, wußte ich schon, daß Harcamone dort seine Hinrichtung erwartete. Bei meiner Ankunft wurde ich also von dem Mysterium eines meiner alten Kameraden von Mettray ergriffen, der es verstanden hatte, unser gemeinsames Abenteuer bis zum Äußersten zu treiben: zum Tode auf dem Schafott, der unser Ruhm ist. Harcamone hatte „Erfolg gehabt“. Und dieser Erfolg war nicht von dieser Welt, wie Geld oder Glück; angesichts dieser Vollendung erwachte in mir Erstaunen und Bewunderung (selbst das Einfachste ist wunderbar), aber auch die Furcht, die den Zeugen einer Zauberei in Verwirrung bringt. Harcamones Verbrechen hätten meiner Seele vielleicht nichts bedeutet, wenn ich ihn nicht näher gekannt hätte; aber die Liebe, die ich für die Schönheit empfinde, hat die Krönung meines Lebens durch