Rätsel. Jan Morris. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Morris
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783908778776
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darauf, mit prächtigen Wachssiegeln von Bischöfen und Kanzlern! Wie glücklich die Gesichter der alten Geistlichen, wenn wir mit aufgeregt angehaltenem Atem unsere Dankesworte murmelten – »Haben Sie vielen Dank, Sir!« – »Das ist aber wirklich großzügig von Ihnen, Sir!« – und sie uns noch einmal, schon ein wenig müde um die Augen, durch den sich schließenden Spalt ihrer Wohnungstüren zunickten!

      Mir war nicht so richtig klar, wozu Oxford eigentlich da war, und ich sah auch keinen Grund zu fragen. Es war einfach da, nichts was man bestimmen oder erklären musste, einfach ein Bestandteil des Lebens. Mir kam es wie ein eigenes Land vor, eines, das seine Bewohner offenbar dazu ermunterte, ihre eigenen Interessen und ihr Vergnügen zu verfolgen, nach ihrem eigenen Zeitplan und so, wie es ihnen gefiel – und diese Vorstellung einer idealen Landschaft, durch deren Wälder, durch die Hügel, durch die Auen diejenigen, die das Glück haben, dort zu sein, für kurze Zeit wandern dürfen, ist das Bild, das ich bis zum heutigen Tag von einer Universität hege.

      All das waren aufregende Einflüsse auf ein Kind, dessen Aufmerksamkeit so geschärft war wie die meine. Sie bekräftigten mich noch in der Vorstellung meiner Andersartigkeit und meiner Reinheit. Die Schule war angenehm unmännlich: Hier nannte niemand mich einen Weichling, nur weil ich mich poetisch gab, oder fand es albern, dass ich rot wurde, wenn mein Geschlecht zu sehen war. Ich verabscheute Sport, alles außer dem Langstreckenlauf, aber niemand machte mir Vorhaltungen deswegen, und ich glaube, die Sensibleren unter den Lehrkräften spürten bei mir eine gewisse Ambiguität und dämmten sie nach Kräften ein. An einen bestimmten Augenblick der Empathie denke ich bis heute mit pochendem Herzen zurück. Einmal war ich im Zimmer der Hausmutter, wollte vielleicht ein Mittel gegen Bauchschmerzen oder holte gestopfte Socken ab, und plötzlich fasste sie mich bei beiden Händen und fragte mich, ob sie mir etwas zeigen dürfe. Sie sagte es mit freundlichem, doch ernstem Lächeln, und ich stellte mir vor, dass sie mir ein Familienerbstück aus einem Schmuckkästchen zeigen wollte oder ein Bild von einem Lieben. Stattdessen ging sie zum Fenster, schloss die Vorhänge und zog ihr Kleid aus. Ich sehe ihre recht dürre Gestalt noch vor mir, in einem rosafarbenen Unterrock, eine Art Satin, und höre ihre Stimme, mit einem leichten Akzent des ländlichen Oxfordshire – »Du musst dich doch nicht schämen, Lieber, bestimmt hast du doch deine Mutter schon oft im Unterrock gesehen?«

      Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, als sie meine Hand nahm, sie um den glatten Stoff an ihrer Hüfte legte und hinten ins Kreuz. »Da«, sagte sie, »fühl mal da.« Ich fühlte nach, und unter dem Satin war ein kleiner, harter Knoten. »Spürst du das?«, fragte sie, kniete sich vor mich auf den Boden und nahm mein Gesicht in beide Hände. »Was kann das sein, Morris? Was meinst du, was das ist?« Ich war gerührt, dass sie mich fragte, ich hatte Angst und war stolz, alles zusammen, und mühte mich nach Kräften (den wenigen, die ich hatte), sie zu trösten. Ach, das sei gar nichts, versicherte ich ihr beherzt, da müsse sie sich keine Sorgen machen. Nur ein kleiner Knoten. Kaum zu spüren. Solche Knoten habe meine Mutter öfter.

      Der aufregendste Einfluss von allen war jedoch der, den das Leben in der Kathedrale mir bot. Ich bin nie so recht gläubig gewesen und wünsche mir auch heute noch, die großen europäischen Kirchen würden ihre Kräfte für etwas weniger Abstruses als den Gottesdienst verwenden. Ausnehmen will ich von meiner Respektlosigkeit aber die wirklich waschechten englischen Kathedralen, falls es davon noch welche gibt: die, in denen noch aus dem echten Book of Common Prayer gelesen wird, in denen eine Bibel immer noch eine King-James-Bibel ist, unerschrockene Bräute noch immer die Finger kreuzen, wenn sie Gehorsam geloben, die, in denen es nach Moder und Kerzen riecht, in denen die Müttergilde noch die Kniekissen bestickt, in denen die Aussprache der Geistlichen so klar ist wie ihr Gesang wacklig, in denen goldene Gefäße im Licht der Rosettenfenster schimmern, die, bei denen die Organisten sich während der Predigt entspannt über die Brüstung der Empore lehnen, in denen Stanford in C, The Wilderness oder Zadok the Priest an Festtagen durchs Gewölbe tosen und wo am Ende der Abendandacht brüchig, kaum vernehmlich, doch wunderbar rührend die Segensworte von der fernen, in ihren Chorrock gehüllten Gestalt kommen, die dort am Hochaltar zum Abschluss die Arme breitet. All diese Bedingungen waren in meiner Kindheit bei den Messen in Christ Church in Oxford zur Vollkommenheit erfüllt, und unter Gesängen, die von göttlichen Mysterien kündeten, saß ich und sann, dachte Tag für Tag neu nach über das Mysterium meiner selbst.

      Leute, die sich mit Transsexualität beschäftigen, sprechen oft von den geradezu mystischen Erscheinungsformen, in denen sie sich äußert. Der Antike galten Gestalten, die über die Geschlechtergrenzen hinausgingen, oft als etwas Heiliges, und mitfühlende Freunde fanden im Herzen meines Zwiespalts bisweilen eine Art von Inspiration. Ich selbst habe diese Inspiration, so lästerlich oder lächerlich es Skeptikern auch vorkommen mag, zum ersten Mal damals dort in der Kathedrale gespürt. Fünf Jahre lang ging ich, die Ferien ausgenommen, tagtäglich zur Messe, und die Mischung aus Architektur, Musik, Schauspiel und Literatur, aus Suggestion, Assoziation und Religion hatte einen mächtigen Einfluss auf die Betrachtungen, die ich über mich anstellte. Ich kannte dieses Bauwerk beinahe so gut wie mein Elternhaus; oder besser gesagt, ich kannte Teile davon, denn im Verborgenen jenseits des Chorgestühls gab es Votivkapellen und Altarnischen, die aufzusuchen es für uns nur selten Anlass gab, Alkoven, die nur an bestimmten Festtagen zum Leben erwachten und meist in tiefem Schatten lagen, aus denen die verstaubten Standarten längst aufgelöster Regimenter funkelten, Orte, in die bisweilen, als wollten sie sich ungesehen machen, gebeugte Gestalten auf der Suche nach Einsamkeit schlurften. Den hell erleuchteten Umkreis des Chorgestühls hingegen machte ich gleichsam zu meiner Heimat, und dort mehr als an jedem anderen Ort formte ich aus meinem Rätsel meine Bestimmung.

      Ein jahrhundertealtes Gotteshaus ist immer ein guter Ort für Geheimnisse, und mein eigenes Geheimnis verschmolz so sehr mit den Formen, Klängen und Strukturen der Kathedrale, dass ich bis heute, wenn ich zur Abendandacht dorthin gehe, etwas wie Komplizenschaft spüre. Vorübergehend fand ich Erfüllung in diesem Bauwerk, indem ich mich ihm ganz hingab. Drüben in der Chorschule hatte ich unter meinen Freunden immer mehr das Gefühl, dass ich mich verstellte; insgeheim, doch unter Schmerzen wand ich mich, wenn Leute, wohlmeinend, doch unwissend, von mir erwarteten, dass ich war wie die anderen. Selbst die Hausmutter, wenn ich auf ihre Vertraulichkeit mit einer eigenen geantwortet hätte, hätte mich zweifellos früh zu Bett geschickt oder mir Feigensirup verschrieben – mehr oder weniger die Reaktion, darf ich dazu sagen, die mir Medizinerkreise auch in den folgenden beiden Jahrzehnten noch entgegengebracht hätten. Manchmal habe ich überlegt, ob all das eine Strafe war. Hatte ich womöglich in einer früheren Inkarnation etwas Schreckliches getan, und dies war dafür meine Verdammnis? Oder gab es eine Wiedergutmachung in einer zukünftigen Existenz, in der ich als Sonja Henie oder Deanna Durbin wiedergeboren würde? Zu wieder anderen Zeiten dachte ich, es ließe sich vielleicht alles durch Leiden lösen, und wenn ich auf dem Zahnarztstuhl saß oder elend auf dem Krankenlager lag oder die anderen mich drängten, als Erster den Sprung ins kalte Schwimmbecken zu wagen, griff ich zu selbst erfundenen Beschwörungsformeln; oft bekam ich zu hören, wie tapfer ich sei, und daraus konnte ich etwas über den Stellenwert des Mutes lernen, denn in Wirklichkeit zählte für mich jeder Augenblick des Unglücklichseins als kleiner Schritt auf dem Weg ins Freie – das waren meine Schätze im Himmel.

      Aber in den Stunden, die wir täglich in der Kathedrale verbrachten, konnte ich ganz ich selbst sein. Dort erlangte ich ein kindliches Nirwana. In meinen hellroten, weißen und scharlachfarbenen Gewändern, inspiriert von der Musik, dem Text und den Noten gleichermaßen, war ich ja eigentlich sowieso kein Junge, ich hatte mich in einer Apotheose der Unschuld gewandelt, nach der ich auch heute noch strebe – nicht so unmittelbar wie die selbstvergessenen Stunden im Schatten der Kastanienbäume, doch umfassender in ihrer befreienden Wirkung. Vielleicht ist Klosterschwestern so zumute. In jedem Falle war ich mir sicher, dass ich die Geister dieses Ortes auf meiner Seite hatte; dass sie genau verstanden, was ich mir wünschte. Wie hätte es denn anders sein können? Die edelsten Züge der Liturgie strebten ja nach dem, was mir das weibliche Prinzip schien. Selbst unsere Gewänder schienen dazu da, das Männliche in uns zu leugnen, und die schönste aller Gestalten der christlichen Erzählung, um vieles vollkommener und geheimnisvoller als Christus selbst, war für mich die Jungfrau Maria, deren Gegenwart sich so fremd und elegant in die Evangelien wob, sie selbst schließlich auch ein Rätsel.

      Auf diese arglose, wenn auch rührselige Art beschwingt,