Rätsel. Jan Morris. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Morris
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783908778776
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      Doch auch wenn manches an meinem Buch auf eine fast schon verschrobene Art altmodisch wirkt, ändert das nicht das Geringste an seinen grundsätzlichen Einstellungen. Ich habe nur einige wenige Wörter für diese neue Ausgabe verändert, und dies ausschließlich in Sachfragen. Ich selbst habe das Rätsel in mir nie für eine wissenschaftliche Frage oder eine gesellschaftlicher Konventionen gehalten. Für mich war es eine Frage des Geistes, eine Art göttlicher Allegorie, und deshalb fand ich, dass Erklärungen nicht weiter wichtig dafür waren. Wichtig war, dass wir alle zusammen die Freiheit hatten, zu leben, wie wir leben wollten, zu lieben, wie wir lieben wollten, und das im Bewusstsein, dass wir, wie eigentümlich, fremdartig oder unklassifizierbar wir auch waren, eins waren mit den Göttern und den Engeln.

      Bei seinem ersten Erscheinen erregte das Buch einiges Aufsehen und fand bald auch in anderen Sprachen Verbreitung – die deutsche und die schwedische Ausgabe hießen beide wie im Englischen Conundrum, die spanische und italienische Enigma, im Portugiesischen hieß es Conundrum oder Enigma, und in Japan hatten sie etwas Wunderschönes als Titel. Briefe kamen zu Tausenden, massenhaft Einladungen stellten sich ein – ein halbes Leben fleißiger, sorgfältiger Arbeit hatte mir nie so viel Aufmerksamkeit eingebracht wie nun allein der Wandel meines Geschlechts!

      Denn alles in allem waren die Reaktionen freundlich, und ich hatte Glück, dass all dies in einer gesellschaftlichen Epoche ans Licht kam, die heute abfällig als »permissiv« bezeichnet wird, die für mich aber trotz aller Exzesse eine Zeit der Freiheit, der Befreiung und der Lebensfreude überall in der westlichen Welt war. Fast alles, was damals an radikalen Bewegungen zu neuem Leben erwachte, das Streben nach persönlicher Freiheit in jeglicher Form, die Sorge um den Zustand unseres Planeten und das Wohl der Tiere, fand seinen kleinen Niederschlag in meiner eigenen Entwicklung. Ich spürte in meinen persönlichen Belangen ein mythisches oder mystisches Streben nach Ganzheit, nach weltweiter Versöhnung, und damals gab es viele, die genauso dachten wie ich.

      Seitdem ist die Welt härter geworden, aber meine Ansichten sind dieselben geblieben. Ich liebe, was ich seit jeher geliebt habe: meine Familie, meine Arbeit, ein paar Freunde, meine Bücher und meine Tiere, mein Haus zwischen Bergen und Meer, die Stimmung meiner walisischen Heimat rings um mich her. Habe ich denn nun, mag man fragen, den wahren Zweck meiner Pilgerreise gefunden, das letzte Rätsel meines Dilemmas oder Zwiespalts gelöst? Manchmal unten am Fluss scheint es mir beinahe, als hätte ich es; aber dann wechselt das Licht, der Wind schlägt um, eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, und dann entgleitet mir die Antwort auf die Frage nach dem Sinn doch wieder.

      Trefan Morys, 2001 Jan Morris

      1

      Unter dem Klavier – über dem Meer – Transsexualität – das Rätsel in mir

      Ich war drei oder vielleicht vier Jahre alt, als mir aufging, dass ich im falschen Körper geboren war und in Wirklichkeit eigentlich ein Mädchen sein sollte. Ich erinnere mich an diesen Augenblick genau, es ist meine früheste Erinnerung.

      Ich saß unter dem Klavier, meine Mutter spielte, und ihre Musik ging rings um mich nieder wie stürzende Wasser, sie schloss mich ein wie in einer Grotte. Die kurzen runden Klavierbeine waren wie drei schwarze Stalaktiten, der Resonanzboden ein hohes schwarzes Gewölbe über mir. Meine Mutter spielte vermutlich Sibelius, sie war damals in einer finnischen Phase, und Sibelius kann, wenn man als Zuhörer unter dem Klavier sitzt, ein sehr lautstarker Komponist sein; aber mir gefiel es dort unten, ich saß oft dort, zeichnete manchmal Bilder auf Notenblätter, die in Stößen um mich herum lagen, oder hielt meine unglückliche Katze fest im Arm.

      Wie ich auf einen so bizarren Gedanken gekommen bin, habe ich längst vergessen, aber es war vom ersten Augenblick an eine feste Überzeugung. Von außen betrachtet war es reiner Unsinn. Für die meisten Leute war ich ein ausgesprochen unkompliziertes Kind, das sich einer glücklichen Kindheit freute. Ich liebte und wurde geliebt, man zog mich freundlich und vernünftig auf, in angenehmem Maße verwöhnt, schon in frühem Alter mit Huck Finn und Alice im Wunderland vertraut gemacht, man brachte mir bei, meine Tiere gernzuhaben, bei Tisch zu beten, stolz auf mich zu sein und mir vor dem Essen die Hände zu waschen. Ich konnte mir gewiss sein, dass ich immer ein Publikum hatte. Ich lebte in vollkommener Sicherheit. Wenn ich auf meine frühe Kindheit zurückblicke, wie man eine windbewegte Allee hinunterschauen mag, sehe ich dort nur eitel Sonnenschein – denn natürlich war damals das Wetter noch um vieles besser, da waren die Sommer noch echte Sommer, und wenn ich mich recht erinnere, regnete es so gut wie nie.

      Um bei meinem Thema zu bleiben, aus jedem vernünftigen Blickwinkel betrachtet war ich ein Junge. Ich hieß James Humphry Morris, Kind männlichen Geschlechts. Ich hatte den Körper eines Jungen. Ich trug die Kleider eines Jungen. Es ist wahr, meine Mutter hatte sich eine Tochter gewünscht, aber sie hat mich nie als Mädchen behandelt. Wahr ist auch, dass Besucherinnen mich bisweilen überschwänglich an ihren lavendelduftenden Fuchspelz drückten und dabei raunten, dass ich mit meinem Lockenkopf doch eigentlich ein Mädchen hätte sein sollen. Als jüngster von drei Brüdern in einer Familie, die schon bald ihren Vater verlieren sollte, wurde ich zweifellos verhätschelt. Als verweichlicht hingegen galt ich nicht. Im Kindergarten hat mich keiner wegen so etwas gehänselt. Keiner starrte mich auf der Straße an. Hätte ich damals laut gesagt, was mir unter dem Klavier durch den Kopf ging, wäre meine Familie zwar kaum schockiert gewesen (Virginia Woolfs androgyner Orlando stand bei uns im Regal), aber doch wohl verblüfft.

      Allerdings dachte ich nicht im Traum daran, das bekannt zu machen. Es war ein Geheimnis, das ich sorgsam hütete; zwanzig Jahre lang teilte ich es mit keiner Menschenseele. Anfangs schien es mir auch nicht weiter von Bedeutung; was das Geschlechtliche anging, hatte ich genauso wenig Ahnung wie jedes andere Kind, und ich stellte mir vor, dass es einfach nur ein weiterer Punkt war, in dem ich anders war. Denn dass ich in manchem anders war, das merkte ich. Niemand hat mich je gedrängt, zu sein wie andere Kinder; Konformismus war keine Eigenschaft, die bei uns zu Hause geschätzt wurde. Wir hatten, das wussten wir alle, ein paar merkwürdige Gestalten unter unseren Ahnen, seltsame Verbindungen, Waliser, Normannen, Quäker, und ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass ich genauso war wie alle anderen.

      Das führte dazu, dass ich als Kind viel allein war, und heute sehe ich, dass meine allenfalls halb bewussten inneren Konflikte mich noch umso einsamer machten. Wenn meine Brüder in der Schule waren, ging ich einsam über Berg und Tal, wanderte zwischen den Felsen, platschte durch den Uferschlamm, durchstöberte die Gezeitentümpel des Bristolkanals, manchmal fischte ich Aale in den trüben Wassergräben des Moors oder beobachtete durch mein Fernrohr die Schiffe, die nach Newport oder Avonmouth fuhren. Wenn ich den Blick nach Osten schweifen ließ, sah ich die Hügelkette der Mendips, auf deren Leeseite die Sippschaft meiner Mutter lebte, Landadel in bescheidenen Verhältnissen, zu Lebzeiten zufrieden, im Tode unter Messingplatten gesteckt. Blickte ich nach Westen, sah ich, weit aufregender für mich, die bläulichen Gesteinsmassen der walisischen Berge, an deren Fuß die Familie meines Vaters seit Ewigkeiten lebte – »anständige, stolze Menschen«, wie ein Cousin sie mir einmal beschrieb; dort erinnerte man sich noch an die letzten, die Walisisch gesprochen hatten, und alle miteinander verband über Generationen die Liebe zur Musik.

      Beide diese Ausblicke waren, wie es mir damals vorkam, mein eigen, und der Stolz auf diesen zwiefachen Besitz gab mir bisweilen das Gefühl, mir gehöre die ganze Welt, ich könne schauen, wohin ich wolle, und immer würde ich darin etwas von mir finden – ein ungesunder Hochmut, wie ich seither festgestellt habe, denn er führte dazu, dass mir später kein Land und keine Stadt den Besuch wert schien, wenn ich nicht ein Haus dort besaß oder ein Buch darüber schrieb. Und wie bei allen Napoleonfantasien fühlte man sich ziemlich einsam damit. Denn auch wenn all diese Gegenden mir gehörten, gehörte ich keiner bestimmten davon an. Die Menschen, die ich von meinem Hügel aus sehen konnte, die ihre Felder bestellten, ihre Läden versorgten, sich beim Ferienflirt am Meer vergnügten, lebten in einer anderen Welt. Sie alle lebten in Gemeinschaft, ich war ganz allein. Sie gehörten zum Club, ich war draußen. Sie redeten miteinander in Worten, die sie alle verstanden, über Dinge, die sie alle interessierten. Ich sprach eine Sprache, die allein mir gehörte, und was mir durch den Kopf ging, hätte sie nur gelangweilt. Manchmal fragte jemand, ob er durch mein Fernrohr sehen dürfe, und das machte mir großes Vergnügen. Dies optische