Feuerjäger: Sammelband. Susanne Pavlovic. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Pavlovic
Издательство: Bookwire
Серия: Feuerjäger
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958691506
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      Sie blieb stehen, die Wange gegen den kalten Fels gepresst, und folgte ihm mit dem Blick, während er sich von ihr entfernte und das Seil, dessen anderes Ende er sich umgelegt hatte, sich zwischen ihnen spannte.

      Mit der Zeit gewöhnte sie sich an diese Art der Fortbewegung, oder vielleicht weigerte sich ihr Verstand auch nur, den Horror in seiner Gänze zu erfassen. Thork stieg voran, Stück für Stück, und sie kletterte hinterher. Längst wagte sie es nicht mehr, hinunterzusehen. Das fahle Licht des Spätnachmittags ließ alle Farben zu Grau verschwimmen, und der Wind zerrte an ihrem Haar und Mantel.

      Ihre letzten Kräfte verließen sie, als das Ende bereits in Sicht war. Das Licht schwand nun rasch, und sie schaute hinauf, wo sich die Oberkante der Stufe gerade noch gegen den Himmel abhob. Die Wolkenfetzen des Nachmittags hatten sich zu einer bedrohlich dunklen Decke geschlossen. Zwischen ihrer Position und der Kante lag nackter, steil aufragender Fels von der Höhe eines Steinwurfes.

      »Ich bin fertig«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie ich das noch machen soll.«

      Er sah sie an, den Rücken gegen den Fels gelehnt, auch er wirkte mittlerweile alles andere als erholt, und zum ersten Mal meinte sie, Besorgnis in seinem Gesicht zu lesen.

      »Wir müssen«, sagte er. »Es wird dunkel«, doch sein Blick lag lange auf ihr, als hätte er Zweifel an der Durchführbarkeit seiner Worte.

      »Wir machen es nach der bewährten Methode«, sagte er. »Ich steige vor, und wenn ich oben bin, kann ich dich rauf ziehen.«

      Sie nickte kraftlos.

      Er machte sich an den letzten Abschnitt der Klettertour, während sie ihm nachsah, bis sein Umriss von den Schatten verschluckt war. Sie klammerte sich an das Seil, das sie mit ihm verband und der einzige Beweis dafür war, dass sie nicht völlig allein hier zwischen Himmel und Abgrund festsaß. Der Wind wurde stärker und rauschte in ihren Ohren. Es war kalt geworden. Sie glaubte, von ferne dumpfes Donnergrollen zu hören, war sich aber nicht sicher.

      Einen unbestimmten Zeitraum später spürte sie, wie das Seil sich mehrmals hintereinander straffte und wieder durchhing. Sie sah nach oben und versuchte, etwas zu erkennen, doch Himmel und Fels waren zu einer einzigen, grauen Masse verschmolzen.

      Das Zeichen wiederholte sich, und sie beschloss, es als Aufforderung zu werten.

      Zu ihrem Erstaunen gehorchten ihr Arme und Beine, als sie sich in Bewegung setzte. Ihr Kopf war leer, sie kletterte, ohne nachzudenken, zu erschöpft, um noch Angst vor dem Abgrund zu haben. Sie sah kaum etwas und tastete sich voran. Das Seil war nun straff gespannt, sie spürte den starken Zug nach oben, der ihr das Klettern erleichterte, und gerade als sie Hoffnung schöpfte, löste sich ein Felsbrocken unter ihren Füßen, sie verlor den Halt und fiel.

      Jemand schrie, später stellte sie fest, dass sie selbst es gewesen sein musste. Sie fiel ein kurzes Stück ins Nichts, bis das Seil sie mit schmerzhaftem Ruck auffing. Von oben hörte sie ein scharrendes Geräusch und das Klicken von losen Steinen. Sie schaukelte am Ende des Seils und wurde mehrmals hart gegen die Felswand geworfen. Dann spürte sie, wie sie ruckweise nach oben gezogen wurde. Die Kante der Stufe kam in Sicht, gleich darauf, im letzten Tageslicht, die Stiefel des Zwergen, die er fest im Fels verankert hatte, sie griff nach oben und suchte Halt und wurde mit einem letzten, gewaltigen Ruck am Seil über den Rand gezogen.

      Auf dem Bauch kroch sie vom Abgrund weg und blieb liegen. Thork brach keuchend neben ihr zusammen.

      »Vater der Steine«, sagte Thork nach einer Weile, immer noch atemlos. »Das war knapp. Merk dir bitte eines für das nächste Mal: Falls du irgendwo im Seil hängst, strample nicht. Du hättest mich fast mit runter gezogen.«

      »Es wird kein nächstes Mal geben, wenn es nach mir geht«, erwiderte sie und wälzte sich mühsam auf den Rücken, um ihn anzusehen.

      »Merk es dir trotzdem«, sagte er. »Man kann nie wissen.«

      Ein dicker Regentropfen klatschte auf ihre Stirn.

      »Großartig«, schimpfte sie. »Mal wieder Regen.«

      Er wirkte plötzlich mehr als beunruhigt. »Wir müssen weiter«, sagte er und kam auf die Beine. »Ein Gewitter, und wenn es hier ist, möchte ich nicht mehr hier sein. Es würde uns glatt die Stufe hinunter wehen.« Wie um seine Worte zu bestätigen, rollte ein nicht allzu ferner Donner durch die Dunkelheit.

      »Ich bin geschafft, Thork. Ich kann nicht mehr. Und ich sehe kaum die Hand vor Augen.«

      »Licht kann ich dir machen. Das Gelände hier oben ist etwas einfacher. Durchhalten musst du selber noch ein wenig. Nur, bis wir einen Unterschlupf für die Nacht gefunden haben«, fügte er hinzu, als sie sich auf allen Vieren weiter von der Stufe entfernte und sich dann mühsam aufrichtete. Sie beobachtete, wie er einen Stein von der Größe eines Hühnereis aufklaubte und ihn eine Weile in der Hand hielt.

      »liòht«, hörte sie ihn murmeln, und augenblicklich erstrahlte der Stein in hellem, gelblichem Licht.

      »Da«, sagte er und warf ihr den Stein zu. Er war kühl und feucht, als sie ihn auffing, und fühlte sich an wie ein völlig gewöhnlicher Stein, abgesehen davon, dass er so hell leuchtete wie eine Fackel.

      »Gut«, sagte sie und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Lass uns einen Unterschlupf finden.«

      Thork quälte sich mit Vorwürfen, während sie sich wieder in Bewegung setzten. Es war mittlerweile völlig dunkel geworden, und der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und schickte strömenden, kalten, windgepeitschten Regen auf sie herunter. Ich hätte es wissen müssen. Es war zu wenig Zeit. Ich habe uns beide in Gefahr gebracht. Und nun sind wir mit Gròrs Segen gerade so dem Unheil entgangen, aber weit entfernt von einem Schutzort für die Nacht. Ich hätte das Wetter im Auge behalten müssen. Ein aufmerksamer Beobachter hätte heute Mittag schon erkennen können, dass Sturm droht.

      So sehr er sich bemühte, er sah wenig. Nebel fiel nun noch auf sie hernieder, und der strömende Regen tat sein Übriges. Das Licht, das Lianna trug, verhinderte, dass seine Zwergensicht sich auf die Dunkelheit einstellte, und er nahm an, dass es auch für Lianna eher Trost als Hilfe war, denn es verursachte unruhige, irreführende Schatten auf dem unebenen Boden.

      Thork hielt sich bergauf und schräg zum Hang, ohne eine wirkliche Vorstellung von der Umgebung zu haben. Längst war der Regen durch seinen Umhang gedrungen und hatte ihn völlig durchnässt. Kälte kroch in sein Inneres, er biss die Zähne zusammen, um zu verhindern, dass sie aufeinander schlugen. Er wagte nicht daran zu denken, wie Lianna sich fühlen mochte. Der Aufstieg durch die Stufe hatte sie alle Kraft gekostet. Er verspürte Hochachtung vor ihrer Willensstärke und Zähigkeit, aber er befürchtete, dass sie nicht mehr weit vom endgültigen Zusammenbruch entfernt war. Er bekämpfte Panik. Er würde kaum in der Lage sein, sie eine größere Strecke zu tragen, und hier im offenen Hang war es nur eine Frage der Zeit, bis sie beide vom Sturm weggefegt oder von einer Gerölllawine erschlagen wurden.

      Grell zickzackte ein Blitz über den dunklen Himmel und tauchte für Augenblicke die Umgebung in kaltes blaues Licht. Thork warf einen raschen Blick um sich, sah aber nichts als Fels, der ihm auf einmal feindlich und abweisend erschien. Dem Blitz folgte umgehend ein ohrenbetäubender Donnerschlag, der sie beide die Köpfe einziehen ließ. Das Gewitter stand direkt über ihnen.

      »Weiter«, murmelte er, als der Donner verklungen war, und setzte sich wieder in Bewegung. Das Seil, das ihn mit Lianna verband, straffte sich, er spürte ihr Gewicht und legte sich hinein wie ein Zugpferd, bis er merkte, wie das Seil sich etwas lockerte. Er warf einen Blick über die Schulter. Sie kam voran, den Lichtstein in der Faust, das Licht drang durch ihre Finger.

      »Wie weit noch?«

      »Nicht mehr weit«, log er. Der Sturm riss ihm die Worte vom Mund und trug sie davon. »Es gibt eine kleine Höhle ein Stück weiter oben.«

      »Die ist besser ganz nah, deine Höhle. Mir reicht’s.«

      Er tastete sich voran, versuchte mit aller Gewalt, in den schemenhaften Felsgestalten einen Unterschlupf zu erkennen. Seine Finger in den groben Handschuhen, die er zur Seilarbeit