»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Pintel schniefend.
»Schade.« Krona setzte sich in Bewegung. »Ich hatte gehofft, du könntest mir das eine oder andere erklären.«
»Er sollte eigentlich nicht tot sein«, sagte Pintel und starrte unverwandt zu Fenrir hinunter.
»Das sollten viele nicht, die tot sind«, erwiderte Krona und schluckte einen bitteren Geschmack hinunter.
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Pintel. »Es passt nicht zusammen. Sehr mächtige Zauberer, und ich spreche von wirklich sehr mächtigen Zauberern, haben die Möglichkeit, jemanden mit einem Wort zu töten. Sie halten einfach sein Herz an. Ein so mächtiger Zauberer hängt sich aber nicht an eine Gruppe wie uns dran, um an einen Schatz zu kommen. Der teleportiert sich einfach rein und nimmt sich, was er braucht.«
»Tele was?« Krona rüttelte probeweise am Gestänge der Pforte.
»Er versetzt sich von einem Ort zum anderen, über eine beliebige Entfernung, in der Dauer eines Wimpernschlages« erklärte Pintel.
»Praktisch«, sagte Krona und trat einen Schritt zurück, als die Pforte unter ihrer Bemühung aufschwang und sie an den Rand des dunklen Loches brachte.
»Die wenigsten können das«, sagte Pintel. »Ich kenne keinen. Nur diesen Kollegen von mir, du weißt schon, der mit der Kuh, aber der zählt eigentlich nicht, denn er hatte es nicht richtig im Griff. Und ich frage mich, warum unsere Feuerfreundin diesen Aufwand mit uns herkömmlichen Reisenden betreibt, wenn sie doch so mächtig ist.«
»Keine Ahnung«, sagte Krona. »Und ich habe noch mehr Fragen. Was, bei Meridia und ihrem Totenheer, war sie?«
»Eine Valdar, höchstwahrscheinlich. Ein Wesen aus Schatten und Feuer, geschaffen am Anbeginn der Zeit. Ich kann nur vermuten, ich habe nie zuvor eine gesehen.«
»Ich auch nicht. Und ich bin wirklich herumgekommen.«
»Sie sollte überhaupt nicht hier sein. Ihre Heimat liegt auf den Äußeren Welten.«
»Was hat es mit Jerina gemacht? Hat es sie – verbrannt?«
»Ich glaube nicht, dass wir zu irgendeinem Zeitpunkt mit Jerina unterwegs waren«, sagte Pintel düster. »Wahrscheinlich ist Jerina schon zu Hause ausgetauscht worden. Zauberei gibt einem die Möglichkeit, wie jemand anderes auszusehen.«
»Dann ist das Mädchen tot«, sagte Krona.
»Ich glaube auch«, seufzte Pintel. »Was für ein blutiges Abenteuer.«
»Und es ist noch nicht zu Ende. Nicht bevor wir einen Ausgang gefunden haben. Diese Scheibe lässt sich anscheinend nicht zurückholen.«
Sie lehnte sich gegen die noch warmen Gitterstäbe und ließ den Blick durch den Raum gleiten.
»Vielleicht gibt’s ja wieder eine versteckte Tür«, vermutete sie hoffnungsvoll.
Pintel hatte sich schließlich doch in Bewegung gesetzt und die Umhüllung des Kristallschädels vom Boden aufgehoben, die das Feuerwesen zuvor achtlos fallen gelassen hatte.
»Da ist noch was drin.« Er förderte ein gefaltetes und versiegeltes Stück Pergament zu Tage. »An die Erbin Jerina Markholt persönlich, und nur von ihr zu öffnen«, las er vor.
»Mach’s auf«, sagte Krona. »Jerina ist wohl dazu kaum mehr in der Lage, und vielleicht steht etwas von einem Ausgang drin.«
Nach kurzem Zögern brach Pintel das Siegel und entfaltete das Pergament.
»Jerina, Mädchen«, las er vor, »meinen Glückwunsch! Ich wusste, du würdest erfolgreich sein. Was ich dir nun mitteile, ist geheim und muss es bleiben, auch deinen Gefährten gegenüber, die dich bis zu diesem Ort begleitet haben. Sicher hast du das bemerkenswerte Artefakt, den Kristallschädel, bereits bewundert. Damit du aber weißt, was du da in Händen hältst, muss ich dir etwas aus seiner Geschichte erzählen, das wenige zumindest, was mir bekannt ist. Es handelt sich dabei um ein außerordentlich wertvolles Kunstwerk von großer zauberischer Macht. Es ist Teil einer Vorrichtung, die, wenn sie vollständig zusammengesetzt wird, Zauberei von gewaltigen Ausmaßen ermöglicht, von der auch große Gefahr ausgehen kann. Der Vater meines Großvaters bekam seinerzeit den ehrenvollen und wichtigen Auftrag, dieses Artefakt sicher und geheim aufzubewahren, denn die Vorrichtung sollte nicht verwendet werden. So hatte der Rat der Zauberer entschieden. Auch die anderen Teile der Vorrichtung wurden an geheime Orte gebracht.
Die Aufgabe, den Kristallschädel sicher aufzubewahren, ist nunmehr auf dich übergegangen, und es ist von größter Wichtigkeit, dass du ihr gewissenhaft nachkommst, denn, so wurde mir von meinem Vater versichert, auch ein einzelner Teil der Vorrichtung verfügt über Kräfte, die ein Kundiger nutzen und auch missbrauchen könnte. Am besten, du lässt ihn hier unten. Wende dich an Gendig Runenmeister, er ist ein alter Freund der Familie, und setze die Prüfungsebenen umgehend wieder in Stand. Und erzähle niemandem davon. Für deine finanziellen Aufwendungen hinterlasse ich dir zusätzlich zu meinem hoffentlich nach wie vor profitablen Unternehmen einen Beutel mit Gold, er sollte genügen, um deine Kosten zu decken. Überdies wirst du noch etwas finden, das dich auf direktem Weg wieder an die Oberfläche bringt.
Solltest Du, geneigter Leser, nicht Jerina sein, sondern einer ihrer Begleiter, so kann es nur daran liegen, dass ihr etwas zugestoßen ist, ein schrecklicher Gedanke, dem ich aber ins Auge sehen muss. In diesem Fall wende ich mich an Dich mit der eindringlichen Bitte, Jerinas Aufgabe zu übernehmen und fortzuführen, wie ich es beschrieben habe. So danke ich auch Dir, ehrenwerter Fremder, für Dein gutes Werk.
M. M.
Nachtrag: Du lässt diesen Brief jetzt besser fallen, denn sobald Du diese Zeilen gelesen hast, wird er sich selbst zerstören.«
Pintel ließ das Pergament los und machte einen Schritt rückwärts. Noch ehe es den Boden erreicht hatte, entzündete es sich mit einer Stichflamme und verbrannte rasch zu dünner, krümeliger Asche, die zu ihren Füßen auf den Boden schwebte.
»Nicht schlecht«, sagte Krona. »Zumindest eines unserer Probleme scheint sich zu lösen. Wir bekommen unseren Ausgang.« Sie nahm den Beutel, der noch auf dem Podest lag und sich angenehm schwer anfühlte. Sie sah hinein. Er enthielt zwei oder drei Handvoll Goldkronen und ein weiteres kleines, fest verschnürtes Beutelchen. Sie fischte das Beutelchen heraus und warf es Pintel zu, der es aus der Luft fing.
»Sieh mal nach, ob das etwas mit unserem Ausgang zu tun hat«, sagte sie.
Pintel knotete das Beutelchen auf und sah vorsichtig hinein, während Krona den Goldbeutel an ihrem Gürtel befestigte.
»Es ist ein Puder«, meldete er. »Man kann solche verwenden, um Illusionen aufzudecken.«
Behutsam schüttete er sich den Inhalt des Beutels auf die Hand, holte dann tief Luft und blies. Flirrender Staub verteilte sich in der Kammer und ließ Krona heftig niesen. Dann senkte sich der Staub langsam und enthüllte in der Wand neben dem steinernen Podest die Umrisse einer Tür. Während Krona sich noch die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, legte Pintel die Hand in den schimmernden Umriss und schob. Lautlos schwang der Stein auf und enthüllte den Fuß einer Treppe, die in einem dunklen Schacht steil nach oben führte.
»Großartig«, sagte Krona. »Nichts wie raus hier.«
Der nächtliche Wald, der sie an der Oberfläche empfing, erschien ihnen hell und mit Geräuschen angefüllt nach der dunklen Stille in der Höhle. Krona brachte den langen Aufstieg zweimal hinter sich, einmal beladen mit ihrem und Fenrirs Gepäck, einmal mit Fenrirs schwerer, lebloser Gestalt. Als sie ihn endlich an der Oberfläche hatte, legte sie ihn vorsichtig ab und ließ sich mit einem Aufstöhnen auf den weichen Waldboden sinken. Ihre Beine zitterten und krampften.
»Wir müssen ihn begraben«, sagte Pintel, der im Schneidersitz neben Krona saß und düster in die dunklen Schatten zwischen den Bäumen starrte.
»Morgen«, stöhnte Krona. »Ich werde mich heute nicht mehr vom Fleck rühren.«
»Soll ich ein Feuer machen?«