»Uwe ist sonst eigentlich kein Bücherwurm. Ihn interessieren vor allem Tiere. Nun ja, er mag Gunni gut leiden, und Gunni möchte wahrscheinlich gern ebenso ein Schulkind sein wie ihr älterer Freund Uwe. Darin wird die Erklärung zu suchen sein.«
Beate Breuer und Gert Rhode schauten einander an und lächelten. Die Sonne schien auf die Terrasse, die Waffeln waren knusprig und köstlich. Es war eine beschauliche, glückliche Stunde, und beiden tat es wohl, dass sie über Sophienlust und über ihre Kinder sprechen konnten.
Erst nach einer Weile kam der Tierarzt auf seine neue Tätigkeit zu sprechen. Beate erfuhr, dass sich alles zur größten Befriedigung des Bewerbers ergeben hatte.
»Ich war schließlich der einzige Bewerber, der ernsthaft infrage kam. Alle übrigen Kollegen stellten unerfüllbare Bedingungen. Die Praxis meines Vorgängers ist mir geradezu auf den Leib geschnitten. Es ist genau das, was ich mir eigentlich immer vorgestellt und gewünscht habe. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.«
»Sie haben mir nichts zu verdanken als den Hinweis auf die Vakanz. Den Rest haben Sie selbst bewerkstelligt. Wie schaut es mit der Wohnung aus?«
»Ich kann sofort eine Etage im Haus meines Vorgängers beziehen, das ich später vielleicht kaufen werde. Der ehemalige Doktor will zu seinen verheirateten Kindern ins Ausland übersiedeln. Er ist sehr froh, dass ich Haus und Grundstück samt Praxis übernehme. Für eine Übergangszeit behält er einige Räume. Im Laufe der nächsten Monate wird er seinen Haushalt auflösen. Seinen Dackel, seine elf Kanarienvögel, seine vier Katzen und seine Goldfische übernehme ich natürlich. Ein Anfang für ein Konkurrenzunternehmen für Waldi & Co. Was meinen Sie?«, fragte er und kniff ein Auge zu.
»Das wäre etwas für Uwe. Ich fürchte, er würde mehr bei Ihnen zu finden sein als hier, wenn er erst wieder zu Hause ist.«
»Sie …, Sie wollen ihn also nicht allzu lange in Sophienlust lassen?«
Das war eine einfache Frage. Doch dahinter standen viele andere, unausgesprochene Fragen.
»Wahrscheinlich noch bis zum Ende der Volksschulzeit. Ich habe es hier nicht ganz leicht, denn wir sind in allerlei Schwierigkeiten.« Beate schöpfte Atem, um Zeit zu gewinnen. »Wir müssen uns ziemlich durchwursteln, wie man so sagt. Da ich selbst kräftig mitschaffe, fehlt mir die Zeit, mich Uwe richtig zu widmen. Deshalb entschloss ich mich, ihn nach Sophienlust zu geben, obwohl es mir schwerfällt und wir beide ein bisschen unter Heimweh leiden. Es kam dazu, dass ich Uwe jeden Tag mit dem Wagen zur Schule bringen und abholen musste. Wir haben hier besonders ungünstige Schulverhältnisse, und in der dünn besiedelten Heide wird sich daran auch so bald nichts ändern.«
»Sie haben ein großes Gut. Der schlichte Name Heidehof täuscht ein wenig. Ich war überrascht.«
»Ja, es ist ein stattlicher Besitz. Unsere Familie sitzt schon seit sieben Generationen auf dem Gut. Umso mehr möchte ich um jeden Preis verhindern, dass der Heidehof unter den Hammer kommt. Wir haben uns jetzt auf Obst- und Gemüsebau spezialisiert und damit allerlei Erfolge erzielt. Außerdem produzieren wir Honig, den berühmten Heidehonig. Auch Eier liefern wir in großen Mengen.«
»Legebatterien?«, fragte der Doktor und zog unwillkürlich die Brauen zusammen.
Beate schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Haben Sie unsere Freiausläufe denn nicht gesehen? Nur weiße Leghornhühner auf grüner Wiese. Es sieht hübsch aus.«
»Ich kam über den Wirtschaftshof und passierte eine große Feldscheune. Dort standen die Bienenstöcke an einem Gemengefeld.«
»Ach so, das wusste ich nicht. Dann konnten Sie unsere Hühner natürlich nicht bemerken. Ich werde sie Ihnen zeigen. Es ist mein besonderer Stolz, dass ich Freilandeier zum gleichen Preis anbieten kann wie andere Leute die Eier aus den Legebatterien. Ich halte es für unnatürlich.«
»Also eine bürgerliche Einstellung, alle Achtung! Ich wollte schon meine ersten tierärztlichen Vorbehalte anmelden, aber ich sehe, ich komme bei Ihnen an die falsche Adresse.«
»Wären Sie nicht ein bisschen enttäuscht gewesen, wenn Sie bei mir Legebatterien angetroffen hätten? Ich halte nichts vom Profit auf Kosten der Humanität. Das kann sich nicht auszahlen, nicht einmal, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht.«
»Ich wäre wirklich enttäuscht gewesen. Aber ich hätte Ihnen geraten, Ihr Federvieh ab sofort anders zu halten. Was Sie da vom Wasser sagten, macht mich ein bisschen besorgt. Haben Sie so große Sorgen?« Er wagte es nun, diese Frage auszusprechen.
Beate presste die Lippen zusammen. Sie füllte die Kaffeetasse des Gastes nach und schob ihm die Waffeln noch einmal hin, weil sie nicht wusste, ob es richtig war, wenn sie ihm gar zu viel über sich erzählte. Doch das warme Gefühl, das sie für Gert Rhode hegte, siegte über ihr Zögern. Freimütig schilderte sie ihm, wie ihre Lage war. Zwar erwähnte sie nicht, dass die ungeheuren Schulden durch die Gewissenlosigkeit ihres Mannes entstanden waren, doch äußerte sie sich ohne Scheu über die Lasten, mit denen sie zu kämpfen hatte.
»Wir müssen von den Hypotheken herunterkommen«, schloss sie. »Die Zinsen sind zwar nicht überhöht, aber sie fressen uns immer wieder den Gewinn weg. Ich hoffe, dass wir nach der Ernte eine Schuld ablösen können. Noch im Frühling hatte ich kaum Hoffnung. Aber nun war das Wetter günstig, und die Sache mit dem Gemüse und Obst hat sich besser eingerichtet, als ich erwarten konnte.«
»Dass Sie das alles ohne Hilfe leisten, ist enorm.«
Sie hob die Schultern. »Mein Mann ist Kaufmann. Er interessiert sich nicht für die Landwirtschaft. Meistens ist er nicht hier. Wenn es nach ihm ginge, hätte ich Gut Heidehof verkaufen und das Geld in seine Geschäfte stecken müssen. Aber dazu konnte ich mich nicht entschließen. Es ist wohl richtig so.« Sie brach ab.
Gert Rhode versagte es sich, weitere Fragen zu stellen. Er spürte, dass Beate nun schweigen wollte. Waren dies die häuslichen Schwierigkeiten, von denen er gehört hatte? Ein Ehemann, der seinen eigenen Geschäften nachging und für das Landgut aus der Familie seiner Frau kein Interesse zeigte? Vielleicht auch eine Frau, die sich allzu sehr für das ererbte Gut einsetzte und darüber vergaß, dass ihr Mann ebenfalls Rechte besaß.
Es war still zwischen den beiden am Kaffeetisch. Gert Rhode dachte an Hans-Joachim von Lehn, der ihn gewarnt hatte, sich allzu große Hoffnungen zu machen. Doch inzwischen hatte sich ein Teil seiner Wünsche erfüllt. Er trug die neuen Verträge bereits in der Tasche.
Ein Teil seiner Wünsche? Was wollte er denn noch? Hatte er wirklich davon geträumt, dass Beate Breuer einsam sei? Dass sie nur auf ihn gewartet habe?
Ama erschien und fragte, ob noch Kaffee gewünscht werde. In ihrem gütigen, faltenreichen Gesicht war nichts zu lesen. Sie räumte den Tisch ab, und ihre gestärkte Schürze raschelte geschäftig.
Es ergab sich keine Gelegenheit mehr, über persönliche Dinge zu sprechen. Mit den Tassen und Tellern hatte Ama auch die vertraute Stimmung weggeräumt, wie es schien.
Dennoch wurde auch der restliche Nachmittag für den Gast erfreulich. Die junge Gutsherrin führte ihn durch die Stallungen und zeigte ihm nun auch die hübschen Hühnerhäuser mit den Rasenflächen davor, auf denen sich die schneeweißen Hennen unter der Aufsicht von Hähnen tummelten.
Zwar äußerte sich Gert Rhode lobend und anerkennend, doch unterdrückte er die Frage, die sich ihm aufdrängte. Wie war es möglich, dass ein so vorbildlich geführter Betrieb in drückende Schulden geraten konnte? Hatte es in der Familie einen schweren Krankheitsfall oder andere Schicksalsschläge gegeben, die es notwendig gemacht hatten, Geld aufzunehmen?
Gert Rhode verbot es sich, seine junge Gastgeberin mit taktlosen Fragen in die Enge zu treiben. Wenn sie es wollte, würde sie sicher von selbst darüber sprechen. Doch zugleich schmerzte es ihn, dass sie bisher geschwiegen hatte.
Es wurde schon dämmerig, als der Tierarzt Abschied nahm. Noch einmal beugte er sich über Beates schmale, arbeitsharte Hand.
»Werden Sie wiederkommen, Dr. Rhode, sobald Sie die Praxis übernommen haben?«, fragte Beate, die neben dem Wagen stand und im Abendlicht