»Morgen habe ich nachmittags Unterricht«, erwiderte Sissi ohne das geringste Bedauern. Fast machte es ihr ein bisschen Spass, den eitlen Heiko zappeln zu lassen.
Zähneknirschend stellte der junge Mann fest, dass sie gleich da waren. Dort vorn stand bereits das moderne, luxuriöse Haus des Verlegers. Die mächtigen Fenster, die eine ganze Wand einnahmen, waren hell erleuchtet.
»Eigentlich wollte ich dir noch etwas sehr Wichtiges sagen«, erklärte Heiko hastig und blieb in einer dunkleren Straßenecke stehen. »Ich wollte dich fragen, ob du meine Frau werden willst.«
Sissi ging weiter, als habe sie nicht bemerkt, dass ihr Begleiter stehengeblieben war. »Zum Heiraten bin ich noch viel zu jung«, meinte sie leichthin. »Ich habe noch zwei Jahre bis zum Abitur, und danach will ich Germanistik studieren.«
Heiko musste laufen, um das Mädchen wieder einzuholen. »Das spielt doch keine Rolle. Man ist nie zu jung, um glücklich zu sein.«
»Willst du ein Schulmädchen heiraten?« Sissi lachte zum ersten Mal an diesem Abend.
*
Der weißhaarige Kellner des »Bergschlösschens« geleitete das sympathische Paar zum vorbestellten Tisch. Ein wundervolles Gesteck aus rosa Rosen und zierlichen Maiglöckchen prangte in der Mitte des für zwei Personen festlich gedeckten Tisches.
»Eine hübsche Idee von dir, unser Jubiläum ganz allein zu feiern.« Denise sah in ihrem eleganten Seidenkleid bezaubernd jung und schön aus. Hell und rein schimmerte ihre makellose Haut. Freude spiegelte sich in ihren faszinierenden Augen.
Alexander von Schoenecker nickte. Galant rückte er für seine Frau den Stuhl zurecht und gab dem Kellner ein Zeichen, das bestellte Menü zu bringen.
»So viele Jahre ist es her, dass wir einander gefunden haben«, meinte er danach leise. »Und doch scheint es mir, als wäre es erst gestern gewesen.« Liebevoll sah er seine Denise an, griff zärtlich nach ihrer Hand. »Meine Liebe zu dir ist in all dieser Zeit noch größer geworden. Ich fühle mich jetzt noch unauflöslicher mit dir verbunden.« Er deutete mit den Lippen einen Kuss an.
Denise erwiderte die Geste lächelnd. »Bei dir, Alexander, habe ich das große Glück gefunden. Ich bin dir so unendlich dankbar für alles.«
»Ich habe zu danken, Denise. Denn du beschenkst mich Tag für Tag reicher, als es mit allen Schätzen dieser Erde geschehen könnte. Deine Liebe ist so kostbar, so beglückend, dass ich oft Angst habe, es könnte einmal alles zu Ende sein.«
»Gegen das Schicksal sind wir machtlos. Aber gegen alle anderen Anfeindungen werden wir uns tapfer wehren, nicht wahr? Ich werde immer auf deiner Seite sein, Alexander.«
Dem Mann war es, als müsste das Glück seine Brust sprengen. Tief atmete er durch. »Dieses Wissen macht unglaublich stark, Denise.«
Der Kellner kam mit einer hübsch angerichteten Platte, ein junges Mädchen brachte den gekühlten Wein.
»Erinnerst du dich noch, als wir das erste Mal hier beisammensaßen?« Zärtlichkeit schwang in Alexanders Stimme mit.
»Ich habe es nie vergessen. Es gab Rehbraten mit Klößen und Rotkraut.«
»Genau wie heute«, ergänzte Alexander lachend. Selbst der alte Kellner schmunzelte. Er kannte die Familie von Schoenecker gut. Und er wusste, dass sie sehr vermögend war. Trotzdem blieben diese Menschen so einfach und natürlich, so liebenswert.
»Dass du das noch wusstest«, freute sich Denise.
»Ich habe sogar denselben Wein bestellt wie damals.«
»Die Eselshaut?«
»Was sonst?«
»Einfach klasse, würde unser Nick sagen.« Denise wäre ihrem Mann am liebsten um den Hals gefallen. Doch hier, im »Bergschlößchen«, vor all den Gästen, ging das natürlich nicht.
Alexander und Denise aßen mit gutem Appetit. Als der weißhaarige Kellner den Nachtisch servierte, war er sicher, noch nie vergnügtere Gäste bedient zu haben. Das Ehepaar von Schoenecker unterhielt sich wie ein jungverliebtes Paar. Immer wieder sahen die beiden sich in die Augen, ab und zu tuschelten sie miteinander. Es machte richtig Spass, solche Gäste zu bedienen.
Später tanzten Denise und Alexander eng umschlungen auf der romantisch beleuchteten Terrasse. Lampions schaukelten im Nachtwind, und der Geiger spielte so gefühlvoll wie einst.
Während einer Pause trat das Paar nebeneinander an die Brüstung der Terrasse und sah ins Tal hinab. Unzählige Lichter glänzten in der Dunkelheit. Am Horizont wurden diese Lichter intensiver, heller. Dort war die Stadt mit ihren vielen Leuchtreklamen. Denises Blick ging über die sanft geschwungenen Hügel, die weiten Wälder und Wiesen. Dort lag Sophienlust. Man konnte es von hier aus nicht sehen, und doch konnte Denise es sich ganz genau vorstellen. Um diese Zeit brannte das Licht nur noch im Zimmer der Heimleiterin. In den hübsch eingerichteten Kinderzimmern träumten die Kleinen bereits.
»Jetzt ist Tim schon zwei Wochen bei uns, und man weiß noch nichts über ihn«, meinte Denise in Gedanken.
»Nick hat sich alle österreichischen Zeitungen besorgt«, ging Alexander sofort auf das Thema ein. »Doch in keiner wurde ein Findelkind erwähnt.«
»Was hältst du davon, Alexander?« Vertrauensvoll sah Denise zu ihrem Mann auf. »Wäre es nicht Frau Langenburgs Pflicht gewesen, uns die behördlichen Unterlagen inzwischen zur Verfügung zu stellen? Es bedarf doch nur eines Briefes an die entsprechende Dienststelle am Attersee.«
»Ich finde das alles auch sehr merkwürdig. Glaubst du, ich sollte Herrn Langenburg einmal anrufen?«
»Das wird keinen Sinn haben, weil Herr Langenburg über das Kind bestimmt nicht unterrichtet ist. Seine Frau meinte, es wäre unnötig, ihn mit dieser Sache zu belasten.«
»Sag das bloß Nick nicht. Sonst sieht er darin einen neuen Grund zum Grübeln.« Alexander lachte. Doch gleich darauf wurde er wieder ernst. »Der Fall Tim ist tatsächlich merkwürdig. Aber wir haben getan, was möglich war. Weitere Ermittlungen anzustellen liegt im Ermessen der Polizei. Schließlich haben wir den Sachverhalt gemeldet.«
»Eigentlich habe ich immer ein wenig darauf gehofft, dass eines Tages eine schuldbewusste junge Mutter hier auftauchen würde, um ihren Jungen wieder in Empfang zu nehmen. Schließlich ist der österreichischen Polizei bekannt, dass sich das Kind bei uns aufhält. Glaubst du wirklich, dass die Mutter nicht mehr lebt?« Denise schmiegte sich unwillkürlich enger an Alexander. Sie dachte an den bedauernswerten kleinen Tim. Noch vermisste er die Mutter nicht. Doch was würde sein, wenn er älter wurde? Wer würde ihm jene Nestwärme geben, die er brauchte, um glücklich aufzuwachsen?
»Ich glaube es nicht«, antwortete Alexander überzeugt. »Denn in diesem Falle wäre die Aufklärung leicht.«
»Aber Frau Langenburg sagt, der Attersee sei sehr tief. Man würde die Tote vielleicht niemals finden.«
»Wenn jemand plötzlich nicht mehr da ist, gibt es eine Vermisstenmeldung. Und die erscheint auch in den Zeitungen. Da kein entsprechender Artikel aufgetaucht ist, bleibt anzunehmen, dass sich Frau Langenburg irrt.«
»Und wenn sie nun ganz bewusst die Unwahrheit sagt?« Denise dachte an ihren Ältesten. Er hatte in solchen Dingen so etwas wie einen sechsten Sinn. Er spürte es, wenn etwas nicht stimmte. Schon oft war durch seine aktive Mitarbeit die Aufklärung eines Kinderschicksals möglich geworden. Würde es auch diesmal so sein?
»Wir haben keine Beweise dafür, Denise. Deshalb können wir nichts tun als warten. Ich weiß, dass dir das schwerfällt, aber es ist Aufgabe der Polizei, hier Detektiv zu spielen.«
»Eines ist sicher: Frau Langenburg hat das Alter des Babys falsch angegeben.«
»Weil sie es selbst nicht besser wusste.«
»Es könnte aber auch sein, dass sie es absichtlich verfälscht