Georg wollte das nur zu gerne glauben, aber ein Rest Ungewissheit blieb. Es gab also noch einen Grund mehr, die Flucht zu wagen.
Diesmal standen Georg und seine Männer in einer der letzten Reihen. Der Zählappell ergab, dass in ihrem cage mehr als sechstausend Gefangene eingepfercht waren. Der Dolmetscher – er trug als Zeichen seiner Würde eine besondere Binde am rechten Arm, die ihn als Angehörigen des deutschen Lagerpersonals auswies – brüllte den Gefangenen zu, dass das ganze cage in Hundertschaften eingeteilt werden solle und jede Hundertschaft wiederum Zehnerschaften bilden müsse. Dann erklärte er ihnen, dass aus jeder Hundertschaft Abordnungen zu bilden seien, die für sie die Nahrungsmittel in Empfang zu nehmen hätten. Ausrufe der Erleichterung schwirrten durch die Luft. Endlich etwas zu essen! Auch die Apathischsten hatte diese Botschaft erreicht. Die Sergeants kämpften sich durch die Reihen und stellten die Hundertschaften zusammen. Georgs Gruppe wurde mit den Artilleristen und den Luftwaffenhelfern zu einer Hundertschaft zusammengefasst und Georg zum Hundertschaftsführer bestimmt.
Randauer, der hinter Georg und Krumbiegl stand, orakelte: »Das gibt Probleme! Wir und die Artillerie!«
Krumbiegl ergänzte: »Ich glaube, wir müssen den Kindergarten da vorne unter unsere Fittiche nehmen, die werden sonst von der Artillerie untergebuttert!«
Georg wandte sich an die beiden, und seine Stimme bekam dabei einen seltsam rauen Klang:
»Leute, ich bin froh, dass ich mit euch zusammen hier im Dreck stecke!«
Die angetretenen Reihen warteten an diesem Tag vergeblich auf Essensrationen. Das amerikanische Kommando war wieder mitsamt Dolmetscher abgerückt und hatte das cage verschlossen. Murrend und enttäuscht krochen die Männer wieder in ihre Löcher. Aber wenigstens hatte es nicht mehr geregnet. Hinter den Ahrbergen nahm der Himmel aber schon wieder eine graue Färbung an, und gegen Abend würde er sich ganz zugezogen haben. Für die Männer im Lager bedeutete das, dass wieder eine nasse Nacht zu erwarten war; für die Menschen jenseits des Rheins, für die der Krieg noch nicht zu Ende war, bedeutete es eine Nacht ohne Angst vor Bombenangriffen.
An diesem Abend las Georg Maries zweiten Brief, und wieder lag ihr Foto obenauf.
Am nächsten Morgen trat das Unerwartete ein. Ein Armeelastwagen fuhr rückwärts in das cage und brachte Versorgungspakete.
Georg schickte die erste Zehnergruppe los, die er mit Absicht aus den Luftwaffenhelfern zusammenstellte.
»Das ist gut für die Jungs«, kommentierte Krumbiegl Georgs Entscheidung.
»Hoffentlich geht bei der Ausgabe nichts schief!« Randauer war wie alle anderen nervös und schaute immer wieder in die Richtung, aus der die Jungs zurückkommen mussten. Seine Geduld wurde wie die der anderen auf eine harte Probe gestellt. Erst am späten Vormittag tauchten die Jungen wieder auf. Jeder von ihnen trug fünf große Kartons. Selten war eine Aufgabe im Überschlag so schnell ausgerechnet worden. Der Ausruf: »Zwei Mann müssen sich einen Karton teilen!«, machte die Runde.
Angesichts der zu erwartenden Kostbarkeiten gab es kein Halten mehr. Die ganze Hundertschaft stürmte auf einmal auf die Jungen los. Georg hatte seine Zehner-Gruppe aber schon instruiert. Gemeinsam schirmten sie die Luftwaffenhelfer mit ihren Paketen vor dem Ansturm ab. Sogar Klümper, der bis dahin wieder in seine gewohnte Apathie gefallen war, beteiligte sich daran.
Zunächst sah es aus, als ließe sich die halbverhungerte Meute in Schach halten, aber auf einmal gab es eine heftige Bewegung aus dem Gedränge heraus. Ein paar Männer gerieten ins Straucheln, als der bullige Artillerist sie rüde beiseiteschob. Er stieß den Jungen zu Boden und riss die Pakete an sich, als sich Klümper mit einem Aufschrei auf ihn stürzte. Der Artillerist schlug ihn heftig vor die Brust, sodass er über den Jungen stürzte. Die Pakete lagen im Matsch, einige davon durch den Sturz aufgeplatzt.
»He, Arschgesicht!«, brüllte Georg den Artilleristen an und sprang zwischen ihn und den beiden am Boden Liegenden. »Heb sofort die Pakete auf und gib sie dem Jungen zurück!«
Ihm war klar, dass hier und jetzt und ein für alle Mal eine Rangordnung hergestellt werden musste. Andernfalls würden diese Kerle den anderen alles streitig machen und unter sich aufteilen. Jetzt galt es, allen klarzumachen, dass sich niemand durch Rücksichtslosigkeit auf Kosten anderer Vorteile verschaffen durfte.
Georgs Gruppe hatte die Situation sofort erkannt und sich zwischen Georg und dem Rüpel und die übrigen Artilleristen gedrängt. Um das Zentrum des Geschehens hatte sich bereits ein Kreis gebildet. Georgs Gruppe drängte nach hinten, um ihn zu vergrößern, dadurch wurden die Artilleristen abgedrängt und von ihrem Wortführer getrennt.
Der drehte Georg nun sein breitflächiges Gesicht zu. Weit auseinanderstehende glanzlose Augen blickten ihn mit einem Ausdruck an, der wohl besagen sollte: Du bist gleich tot! Arschgesicht – so hatte ihn wahrscheinlich noch niemand zu nennen gewagt. Der Kerl war etwa so groß wie Georg, aber wohl um die Hälfte breiter. Das Ungewöhnliche an ihm war, dass er der Einzige unter allen Hungerleidern hier war, der einen Bauch hatte! Georg kannte solche Kerle. Sie bauten sich mit ihrer Masse vor ihren Gegnern auf, um sie damit zu beeindrucken und einzuschüchtern.
»Ach sieh mal da, das Unterfeldwebelchen will mir kommandieren!« Die Stimme war laut und höhnisch. »Ich lasse mich aber nicht mehr herumkommandieren, Unterfeldwebelchen! Ich übernehme hier das Kommando! Du bist abgesetzt! Vorher haue ich dir aber deine Fresse zu Brei!«
»Na, dann mal zu, Arschgesicht!« Georg wusste, dass er diesen Kerl bis zur Weißglut reizen musste, damit der ihn unüberlegt angriff.
»Georg, pass auf, der Kerl dreht sich immer rechts herum, aber die Rechte ist ziemlich lahm und Dampf ist auch nicht dahinter. Mit der Linken weiß er nichts anzufangen!«, hörte er hinter sich Krumbiegl zischen.
Er ließ seinen Gegner nicht aus den Augen.
»Nun komm schon, Arschgesicht! Klopf hier keine Sprüche! Die Leute haben bezahlt, zeig ihnen, was du kannst! Falls du etwas kannst …«
Außer sich vor Wut über die Beleidigungen griff der Artillerist an. Sein rechter Arm bewegte sich auf Georg zu, aber in der Tat so langsam, dass Georg mühelos nach rechts wegtauchen und mit einem halben Schritt ausweichen konnte. Der Artillerist verlor das Gleichgewicht und geriet ins Straucheln. Georg schlug ihm mit dem linken Fuß die Beine weg und beschleunigte seinen Fall. Noch während des Sturzes landete seine linke Faust im Nacken seines Gegners. Es gab einen harten Aufprall, und der Kerl landete auf dem aufgeweichten Boden.
Er brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, was ihm da gerade passiert war. Dann rappelte er sich mühsam vom Boden auf, fuchtelte dabei mit den Händen herum und bemerkte erst jetzt, dass sein Gesicht mit Dreck verschmiert war. Wütend versuchte er den Schmutz mit den zu Fäusten geballten Händen wegzuwischen und löste damit bei den Umstehenden ein brüllendes Gelächter aus. Er wirkte wie ein zu groß geratenes Kleinkind, dass sich auf diese Weise die Trotztränen aus dem Gesicht wischt. Dass er ausgelacht wurde, machte ihn noch rasender. Er brüllte Georg an: »Du bist schon so gut wie tot, Unterfeldwebelchen!«
Der zweite Angriff war eine exakte Wiederholung des ersten, nur dass er noch langsamer ausgeführt wurde. Georg wich wieder ohne Probleme aus und ließ den Arm des Artilleristen an seinem linken Ohr vorbeischlagen. Dann hob er seinen linken Arm über den seines Gegners, ergriff mit seiner Rechten die eigene linke Hand und schob beide Hände unter das Kinn seines Gegners. Das Ganze kam ihm beinahe wie eine spielerische Griffübung vor. Aus dieser Position heraus machte er einen Ausfallschritt in den Rücken des Artilleristen, gefolgt von einer leichten Drehung, die jenen das Gleichgewicht verlieren ließ. Blitzartig schlug Georg ihm nun mit dem rechten Fuß die Beine weg. Diesmal fiel der Kerl wie ein gefällter Baum auf den Rücken, beide Arme weit von sich gestreckt.
Jetzt musste er an diesem Kerl ein Exempel statuieren, das war Georg klar, und er trat einmal kurz und kräftig in seine geöffnete Hand. Es gab einen hörbaren Knacks. Der Artillerist brüllte wie am Spieß.