»Ach du Scheiße!« Trotz der Dunkelheit glaubte Georg den Schrecken in Krumbiegls Gesicht zu erkennen. »Die fliegen nach Südosten, Georg! Das ist die Richtung Frankfurt, Würzburg, Nürnberg!«
Die Richtung, in der Krumbiegls Familie lebte.
»Da ist doch schon alles kaputt! Was wollen die denn noch kaputt machen?« Seine Stimme klang hilflos, und er sackte regelrecht in sich zusammen: »Wann machen die denn endlich Schluss mit diesem ganzen Scheißkrieg? Es gibt doch nichts mehr zu verteidigen. Nur noch den Arsch des Führers!«
Die Krumbiegls besaßen ein kleines Weingut südlich von Würzburg, wo der Main eine große Schleife nach Süden macht. Er hatte Georg schon oft von seinem Elternhaus erzählt.
»Sie verschwenden ihre Bomben doch bestimmt nicht auf ein so kleines Weinbauernstädtchen«, mutmaßte Georg.
Krumbiegel wirkte nicht sonderlich beruhigt.
»Wo sie drüberfliegen, können sie ihre Fracht abwerfen«, gab er zurück. »Ob es sich nun lohnt, mein Vaterhaus kaputtzubomben oder nicht.«
Georg schwieg, denn was hätte er dagegen einwenden können?
»Wir Krumbiegls haben schon immer dort gelebt und Wein angebaut, weißt du«, fuhr Krumbiegl fort. »Länger als fünfhundert, aber vielleicht auch schon über tausend Jahre – wirkliche tausend Jahre, nicht die vom Gröfaz proklamierten, die jetzt hoffentlich bald zu Ende sein werden!«
»Tausend Jahre?« Georg konnte es kaum glauben.
»Ja!« Krumbiegl grinste schief. »Was meinst du, wie so viel Geschichte auf einem Menschen lasten kann. Als Letzter einer so langen Reihe von Krumbiegls und einziges Kind meines Vaters kann ich es ihm schließlich nicht antun, nicht mehr heimzukommen. Es ist meine Pflicht, eine neue Generation von Krumbiegls in die Welt zu setzen.«
Seine Stimmung hatte sich unmerklich geändert. »Mein Vater konnte die Nazis noch nie leiden«, sagte er unvermittelt. »Sie reden ja immer von Blut und Boden und von Ahnenerbe und was weiß ich, aber das sind doch alles nur Emporkömmlinge, die aus dem Nichts hochgekrochen sind. Sie haben in Wirklichkeit keine Ahnung von dem, was sie daherfaseln, weder von Blut und Boden, noch von Ahnen und Erbe. Schon vor zehn Jahren hat er mir das klargemacht.«
Georg lehnte den Kopf an den Erdhaufen und hörte zu, wie Krumbiegl weitererzählte.
Als Karl Krumbiegl das letzte Schuljahr der Mittelschule besuchte, nahm ihn sein Vater an einem Spätsommerabend mit in den Weinberg. Der Tag war, wie auch die vorausgegangenen, sehr heiß gewesen. Sie stiegen den Hauptgang des Weinbergs hinauf, und sein Vater bedeutete ihm, auf dem dicken Stein Platz zu nehmen. Dieser Stein war vor Generationen beim Bau des Weges ausgegraben und an den Wegrand bugsiert worden. Von dort aus hatte man einen ungestörten Blick in alle Richtungen über das wohlgeordnete, endlos auf- und abwogende Rebland. Die Sonne verschoss ihre letzten Strahlen, der Mond stand schon als helle Scheibe am Himmel bereit, und die Hitze des Tages hockte noch in der Erde. Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden, und es lag eine eigenartige Stimmung über der Landschaft. Der alte Krumbiegl hatte seinem Sohn seinen Arm auf die Schulter gelegt. Krumbiegl spürte, wie dieser von harter Arbeit knorrig gewordene Arm ihn schier in den Stein zu drücken schien. Sein Vater deutete auf die wie mit einem Lineal ausgerichteten Rebstockreihen, die sich den Hang hinunter bis zum Main hinzogen, den der Mond in eine silberne Schlange verwandelt hatte.
»Weißt du, Junge, die Krumbiegls sitzen hier seit tausend Jahren und bauen Wein an. Ich bin in der langen Reihe dieser Menschen der vorläufig letzte! Aber der nächste wirst du sein!«
Darum hatte ihn sein Vater heute Abend mit hier heraufgenommen! Er wurde wie ein neues Glied in eine lange Kette eingehakt und als Erbe eingesetzt!
Sein Vater fuhr fort: »Im Augenblick wird von den Braunhemden viel von Blut, Ehre und Vaterland gefaselt. Höre nicht auf diese Rattenfänger! Die wissen gar nicht, was Ehre ist! Ehre kann dir niemand geben oder dir mit viel Brimborium wie einen Mantel umhängen! Ehre kannst du dir nur selber geben! Ehre kommt von ehrlich. Glaubst du, dass diese Kerle ehrlich sind? Schau dir diesen Frommelt an, wie er wie ein Gockel in seiner SA-Uniform durch die Stadt stolziert! Verstehst du, was ich dir sagen will, Junge?«
»Ich glaube ja, Papa!« Das kam ihm fest und ehrlich über die Lippen. In diesem Augenblick kam ihm der Arm seines Vaters gar nicht mehr schwer und drückend vor, er bekam etwas Leichtes, Beschützendes, ja, Sorgendes, Erhaltendes!
Irgendetwas war anders an diesem Abend. Es war nicht nur das Gespräch zwischen Vater und Sohn. Es war die Luft. Sie fühlte sich plötzlich anders an, nicht mehr nur sanft wärmend, sie war voller Spannung. Und dann sah er es zuerst, stieß seinen Vater an und deutete auf den höheren Rand des Weinbergs. Ein eigenartiges Flimmern lag auf den Enden der Pfosten, die den Weinstöcken Halt gaben. Auf jedem Pfosten saß ein kleines durchscheinendes, bläulichweiß schimmerndes Flämmchen. Sie tanzten auf und nieder wie kleine fluoreszierende Kobolde.
»Mein Gott, Karl! Weißt du, was das ist?«
»Nein, so etwas habe ich noch nie gesehen!« Ehrfürchtig und ein bisschen ängstlich blickte der Junge auf das merkwürdige Flackern.
»Und du wirst so etwas auch nicht noch einmal sehen! Das ist so selten, dass es oft mehr als eine Generation dauert, bis so etwas wiederkommt! Das sind Elmsfeuer, Karl! Das sind elektrische Spannungen, die man sonst nur auf den Mastspitzen von großen Schiffen erleben kann. Wir bekommen ein Gewitter! Aber schau es dir so lange an, wie es noch da ist!«
Wie zur Bestätigung meldete sich weit im Westen ein Donnergrollen und ein Blitz zuckte über den Himmel. Allmählich verlöschten die kleinen Kobolde. Es donnerte und blitzte noch einige Male, aber das Gewitter zog sich zurück, ohne einen einzigen Tropfen Regen gebracht zu haben.
Das Geräusch der Flieger verzog sich ebenfalls, so allmählich, wie es zuvor angeschwollen war, in die andere Richtung. Als Krumbiegl fertigerzählt hatte, war es längst in der Nacht verklungen. Aber in den frühen Morgenstunden kam es zurück. Diesmal aus der Richtung, in der es in der Nacht verschwunden war, nur viel lauter. Der Bomberteppich flog diesmal viel niedriger. Ein Teil der von ihren Lasten befreiten Bomber löste sich aus dem Teppich und überflog das Lager mit dröhnenden Motoren im Tiefflug. Im ersten Augenblick dachten alle, dass sie jetzt zerbombt werden sollten, und suchten Deckung in ihren Löchern, aber die Piloten machten sich nur einen übermütigen Spaß daraus, die Gefangenen auf einem für sie glücklichen Heimflug zu wecken.
An diesem Morgen ging etwas Bedeutsames in ihrem cage vor, das der Hoffnung der Gefangenen auf Verpflegung neue Nahrung gab. Es erschien ein amerikanisches Kommando, diesmal mit einem kommandierenden Offizier und einem deutschen Gefangenen, der als Dolmetscher fungierte. Alle Gefangenen des cages wurden aufgefordert, in Reih und Glied anzutreten. Es dauerte fast den ganzen Vormittag, bis ein überschaubarer Aufmarsch hergestellt war. Ein paar Sergeants liefen immer wieder brüllend durch die Reihen, um eine zählbare Formation zustande zu bringen. Georg traute zunächst seinen Augen nicht, als er in der feldgrauen Masse auch einige ältere Männer in Postbotenuniformen und sogar einige Eisenbahner entdeckte. Er wurde bleich und musste sofort an seinen Vater denken. Krumbiegl stieß ihn an.
»Was ist mit dir, Georg?«
Georg hob den Kopf und zeigte mit dem Kinn auf zwei Reichsbahner, die