»Bei dem Ding muss man beim Scheißen aber genau zielen, sonst scheißt du dir in die Schuhe!«
»Man muss auch einen festen Stand haben, wenn die Ränder glitschig sind, rutschst du aus, und du stehst in der Scheiße!«
Immer neue Möglichkeiten und Gefahren bei der Benutzung des Grabens wurden erörtert. Dann schwand das Interesse, und sie gingen zurück zu ihren Löchern, um weiterzuarbeiten. Inzwischen war auch das letzte Wasser aus dem Kanister aufgebraucht. Der Gummisack hing schlaff an seinem Gestell und war nicht wieder aufgefüllt worden. Georg hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, was schlimmer war – Hunger oder Durst. Aber bald wusste er es: Sein Hals wurde trocken, und seine Zunge schwoll an und lag im Mund wie dick aufgequollene Pappe.
Es war widersinnig. Rechts floss der Rhein, und um sie herum war Regen. Sie waren von Wasser umgeben und konnten doch nicht trinken! Einige verfielen auf eigenartige Methoden, um ihren Durst zu stillen. Sie nahmen dabei groteske Haltungen ein, die schnell kopiert wurden. Einem zufälligen Zuschauer boten die durstigen Männer ein Panoptikum der Lächerlichkeit. Sobald der Regen heftiger wurde, stellten sich ihm einige Gefangene mit offenem Mund entgegen und versuchten aus der Luft zu trinken. Andere hielten ihre Kochgeschirre in den Regen oder spannten Taschentücher auf und saugten das Wasser heraus. Eine andere Methode war das »Zelte melken«. Dabei wurde der Regen, der an den paar verbliebenen Zeltwänden herablief, in Kochgeschirren aufgefangen.
Endlich, nach drei Tagen – oder waren es schon vier? – kam ein kleiner Lastwagen, der von einem Jeep begleitet wurde, an ihren Drahtverhau heran. Der Verhau wurde geöffnet und der Lastwagen rumpelte rückwärts in die Lücke. Ein paar GIs sprangen lärmend heraus und öffneten die Ladeluke.
Diesmal beeilte sich keiner der Gefangenen. Langsam, teils schon aus Schwäche, aber auch, weil sie befürchteten, wieder enttäuscht zu werden, näherten sie sich dem Lastwagen. Die GIs hatten inzwischen aus einigen Kisten und einem darüber gelegten Brett einen Tisch improvisiert. Andere füllten den Gummisack wieder mit Wasser.
»Ich glaube es ja nicht! Diesmal gibt es wirklich was zu essen!« Schulte war begeistert.
»Freu dich nicht zu früh, Dicker!«, dämpfte Randauer die Erwartungen.
Trotzdem bildete sich vor dem Kistentisch so etwas wie eine Schlange. Das Bilden von langen Reihen, dachte Georg, scheint Soldaten im Blut zu liegen, besonders wenn es ums Essenfassen geht.
Kartons wurden von der Ladefläche heruntergereicht und auf den Tisch gestellt. Die hinten Stehenden reckten die Hälse, um zu sehen, was da vorne verteilt werden sollte. Dann hielten auch sie ihre Verpflegung in den Händen.
»Was ist das denn?« Schulte bekam den Mund nicht mehr zu.
»Babynahrung!«, kommentierte Steinmetz. »Das ist Schonnahrung. Nachdem wir so lange nichts mehr gegessen haben, müssen wir erst wieder schonend auf richtiges Essen vorbereitet werden!«
Die Enttäuschung über das, was sie da in ihren Händen hielten, machte sich in sarkastischen Äußerungen Luft. Georg nahm sein Paket Haferflocken entgegen und beeilte sich, seine Wasserflasche zu füllen. Sie schlichen zu ihren halb fertigen Löchern zurück und versuchten die Haferflocken zu essen. Einige hatten sich sofort gierig eine große Hand voll in den Mund gesteckt und begannen sie sofort wieder auszuwürgen, denn die staubtrockenen Flocken blieben ihnen im Halse stecken. Georg feuchtete mit einem Schluck Wasser seine Kehle an und nahm nur einen Löffel voll Flocken in den Mund. Sie waren absolut geschmacklos. Er kaute und kaute, bis sie einen fein zermahlenen Brei ergaben, der sich dann mit einem Schluck Wasser herunterspülen ließ. Als seine Kiefer zu schmerzen begannen, stellte er das Kauen ein. Er hatte nicht das Gefühl, überhaupt etwas gegessen zu haben, es war, als würden die Haferflocken die Nahrungsaufnahme nur vortäuschen.
An diesem Tag machte ihnen aber wenigstens der Wettergott ein Geschenk, über das sie Grund zur Freude hatten: Es hörte auf zu regnen, und ein kühler Wind vertrieb die letzten Wolken. Nach Tagen grauer Düsternis zeigte der Himmel ein verwaschenes Blau. Die halbfertigen Erdlöcher wurden an diesem Tag auch fertiggestellt. Sie waren so tief und breit, dass die Gefangenen mit angewinkelten Beinen einigermaßen bequem darin sitzen konnten. Ihre Köpfe schauten noch über die Grube hinaus, und sie konnten sie zum Schlafen auf den Erdaushub legen.
Um in Bewegung zu bleiben, machte Georg mit Krumbiegl einen Spaziergang am Drahtverhau entlang. Krumbiegl bückte sich plötzlich und zupfte ein paar Blätter vom Boden.
»Hier, schau mal, Georg!« Krumbiegl hielt ihm ein paar Löwenzahnblätter hin. »Die kann man essen. Meine Mutter machte daraus immer einen leckeren Salat. Er ist ein bisschen bitter, aber man kann sich daran gewöhnen.«
Er steckte ein Blatt in den Mund und begann zu kauen.
»Es fehlt zwar Essig und Öl, aber … versuch’s mal, Georg!«
»Ihr Weinfritzen schreckt auch vor nichts zurück!« Georg sah die Löwenzahnblätter skeptisch an. »Ich kenn die nur als Viehfutter. Aber ihr esst ja auch Schnecken!«
Krumbiegl verdrehte gespielt genießerisch die Augen. »Erinnere mich nicht daran, mir läuft schon das Wasser im Munde zusammen!«
Georg besah sich eines der Blätter und schob es vorsichtig in den Mund. Die Blätter waren vom Regen der letzten Tage sauber gewaschen, und er musste zugeben, dass sie zwar bitter schmeckten, aber durchaus genießbar schienen. Um den bitteren Geschmack zu überdecken, schob er sich einen Löffel Haferflocken in den Mund und stellte erstaunt fest, dass sich der Brei nun besser schlucken ließ.
Als sie zu ihrer Grabensiedlung zurückkamen, zeigten sie den Kameraden die neue Nahrungsquelle. Auch sie waren zunächst nicht sehr begeistert, nach den ersten Kauversuchen begaben sich aber die ersten schon auf die Suche nach Löwenzahn. Am nächsten Tag war dann um ihren Lagerplatz herum alles an essbarem Löwenzahn verschwunden.
Das trockene Wetter hielt ein paar Tage an, dann setzte wieder Dauerregen ein. Und wie Georg vorausgesehen hatte, füllte sich auch ihr cage rasch mit neu eingetroffenen Gefangenen. Um sie herum wurde es jetzt laut und eng. Es kam zu ersten kleineren Prügeleien um einzelne Standorte. Besonders eine größere Gruppe Artilleristen tat sich beim Abstecken ihres Reviers lautstark hervor. Ein großer, ungeschlachter Kerl war der Wortführer des Haufens.
»Mit denen wird es noch Probleme geben«, sagte Georg zu Krumbiegl. Der nickte und zeigte auf den Anführer. »Besonders den da müssen wir im Auge behalten!«
Auch bei den Wachmannschaften gab es Veränderungen. Waren bisher am äußeren Zaun nur hin und wieder Wachposten aufgetaucht, so langweilten sich jetzt alle hundert Meter Doppelposten. An der Außenecke wurde gerade durch ein Gefangenenkommando ein einfacher Wachturm mit einem Scheinwerfer errichtet.
»Heute Nacht schlafen wir mit Beleuchtung.« Krumbiegl war sein Ärger anzusehen.
»Was meinst du, Karl?«, fragte Georg ihn unvermittelt. »Welchen Bereich deckt der Scheinwerfer wohl ab? Ich glaube nicht, dass er bis zum Zaun reicht, der am Rhein entlangführt.«
»Du denkst ans Türmen!«
Der Scheinwerfer brachte Georg erst ins Bewusstsein, was ihm eigentlich von Beginn an hätte klar sein können: Eine Flucht war nur über den Rhein möglich! An der Rheinseite standen keine Wachtürme, aber wie weit der Scheinwerfer reichte, würde sich erst heute Nacht herausstellen.
»Eine Flucht über den Rhein zu dieser Jahreszeit ist unmöglich!«, gab Krumbiegl aber zu bedenken. »Das Wasser ist noch viel zu kalt.«
Das wussten natürlich auch ihre Gefangenenwärter. Deshalb ersparten sie sich die Mühe des Aufstellens von Wachtürmen entlang des Rheins.
»Karl, es geht aber nur über den Rhein«, widersprach Georg. »Wer weiß, wie lange wir hier sonst noch festgehalten werden. Auf warmes Wetter müssen wir natürlich noch warten. Wenn wir bis dahin nicht verhungert sind, sollten wir es aber wagen. Machst du mit?«
Krumbiegl zögerte keinen Augenblick. »Ich bin dabei,