Von Menschen, Märchen & Moguln. Michael Schottenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schottenberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783903217577
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tieferen Systematik unterzogen. Diesmal wird pro Häuserblock geschlichtet. Einer der Walas, der Grandseigneur der Kolonne, ist mir bei seiner Ankunft im Bahnhof bereits aufgefallen, ein Aristokrat in Aussehen und Tenue.

      Kurz vor zwölf. Gewiss wartet bereits ein hagerer Jüngling, Typus Staatsdiener, auf die heutige Sinnesattacke. Schüchtern sollte er schon sein, darauf legt meine Phantasie Wert, seine Anbetungswürdige gibt sich nicht für Rabauken her. Sendet er ihr ein hastig hingekritzeltes Poem zurück, das er in einer mit Chapati-Resten blank getunkten Etage des Blechkerls wie zufällig deponiert? Die Göttin irdischen Genusses am Beginn der Nahrungskette sehnt wohl schon den Augenblick herbei, da sich der errötende junge Mann dem verführerischen Duft ihrer Speisen hingibt.

      In Windeseile ordnen und beschriften die Boten das wertvolle Gut erneut, dann zerstreuen sich die Delegationen in Einzelgänger und Gruppenläufer. Schwer beladen nehmen sie mit ihren Fahrrädern die letzte Etappe in Angriff. Manche wuchten sich das lange Tragegestell auf den Kopf, andere stoßen Handkarren vor sich her, auf denen die Dosenungetüme verzurrt sind. Ich trachte danach, meinen »Anführer« nicht aus den Augen zu verlieren, was sich leichter anhört, als es ist, bewegt sich die Gruppe doch überaus ambitioniert durch den mittäglichen Verkehr.

      Zehn nach zwölf. Die Herren verfallen in Trab, immer mehr von ihnen verschwinden in den Seitengassen. Mein Team läuft die Jamshedji Tata Road entlang, so zügig, dass ich Mühe habe, Schritt zu halten. Wir pflügen durch Mumbai, in Richtung Nariman Point. Autos, Busse, Motorräder, Ochsenkarren, Fußgänger, Kühe – alles steht still und nimmt Rücksicht auf den seltsamen Zug: ein Handkarren, darauf Trauben verschnürter Blechbüchsen, geschoben von zwei weiß gekleideten Herren, einer davon reichlich nervös, gefolgt von einem schweißüberströmten Traveller mit gezückter Kamera. Die Träger werden immer schneller. Sie wissen, es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Der in seinem stickigen Büro Schmachtende benötigt Seelenfutter. Die Walas erhöhen das Tempo, ich immer noch hinterdrein. Längst habe ich meine Tarnung abgelegt, weswegen mir die Kollegen bei jedem Überqueren der Straße bereits freundschaftlich zuwinken. Das Lauftempo wird erneut gesteigert. Tun sie es, um mich abzuschütteln?

      Halb eins. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Eine halbe Stunde schon hasten wir durch die Mittagshitze. Die wilde Jagd verlangt mir alles ab. Endspurt. Wir sind in der Madame Cama Road, nach vorne hin zum Marine Drive wird sie zur Sackgasse. Endlich halten die beiden Läufer. Zwölf Uhr achtunddreißig. Wir sind da. Die ersten Henkelmänner verschwinden in den Bürohäusern. Der Grandseigneur-Dabbawala entwirrt die Dosen und ordnet sie ein allerletztes Mal, indem er sie der Reihe nach auf das Trottoir stellt. Dann pflückt er eine Büchse, wie mir scheint, mit besonderer Sorgfalt heraus, wirft mir einen verschmitzten Blick zu und verschwindet im Hausflur. Der Moment ist gekommen. Bald schon vereint die beiden jungen Liebenden: Duft (vorerst), Vollkommenheit (später) und Erfüllung (endlich). Der Übermittler all dieser Genüsse ist abgetaucht in der dunklen Kühle des Hauses und hastet hinauf in den ersten Stock. Der Mitläufer bleibt außen vor. Heute durfte ich teilhaben am Kreislauf allzu menschlicher Sehnsucht.

      Mein Blick fällt auf ein Messingschild: »Thai Massage, First Floor«. Der schüchterne junge Kerl ist mitnichten schüchtern, noch weniger Mann. Meine postpubertäre Liebesphantasie stürzt in sich zusammen. In Wahrheit hat eine Gruppe Professioneller von einer Restaurantkette Fast Food gegen den hastigen Hunger geordert. Gewiss machen sich flinke Finger sogleich wieder an ihre Arbeit. Oh, mein Gott. Das Geheimnis der Henkelmänner ist gelüftet: Halbseidenes Licht fällt auf die Madame Cama Road. Nachdenklich mache ich mich auf den Heimweg.

       Für meinen Freund

      Mumbai – Udaipur, 20. Februar

      Traurige Nachricht aus Wien. Heinz Petters, der große Volksschauspieler, ist tot. Ich habe ihn gemocht. Sehr. Was habe ich nicht alles mit ihm gemacht, als Regisseur, als Kollege, als sein Direktor. Er war ein Kind der Bühne, der seinen Beruf immer auch als Spielzeug begriff. Er hatte Freude daran und er schenkte sie weiter. Nie hat er sein Publikum getäuscht, wie so viele seiner Kollegen diesseits der Rampe. Heinz blieb die unbeschwerte Ausnahme.

      Mein letzter Tag in Mumbai. Ich gehe die Ramchandani Marg entlang, in Richtung Taj Mahal Palace – ein Versuch sei mir noch gestattet. Unterwegs steppe ich noch schnell ins Piccadilly, mein bevorzugtes Frühstückslokal, auf einen kurzen, rabenschwarzen Kaffee. Der Besitzer ist Pakistani, er versteht sich darauf. In meinem kleinen roten Buch gehe ich die Eintragungen des gestrigen Tages durch. Vorsichtig schiebt der Kellner das Heft zur Seite und stellt den Kaffee auf den Tisch.

      »Good journey!«

      Ich hatte ihm gestanden, dass ich heute nach Udaipur will.

      »By plane?«

      Ich nicke.

      »Much better.«

      Mit dem Zug in die »Weiße Stadt« zu fahren, würde lange dauern. In Rajasthan werde ich noch genug Gelegenheit haben, mich ökologisch angemessener durchs Land zu bewegen. Ich nehme Abschied von meinem Stammlokal. Seltsam, wie schnell man heimisch wird.

      Heute finde ich den Eingang ins Taj. Das Hotel sieht nicht nur aus wie ein Palast, es ist auch einer. Das Entrée liegt, unauffindbar für Neuankömmlinge, in einem angrenzenden Hochhaus. Security Check. Der Kasten ist radikal heruntergekühlt. In den Wandelgängen liegen üppige Teppiche, in denen man zu versinken droht. Lautlos schleiche ich durch die Couloirs. Ein Hüne von einem Sikh winkt mir vom anderen Ende des Ganges zu. Unsicher grüße ich zurück. Einem zweiten, dessen Gesicht von einem gewaltigen Schnurrbart in zwei Hälften geteilt ist, drohen bei meinem Anblick die Augen aus den Höhlen zu fallen. »Sir …!« Das Hotel ist für alle da, denke ich und gehe weiter. Macht mich mein nicht mehr friktionsfreies Äußeres verdächtig? Vier Tage Mumbai hinterlassen Spuren. Ein Dritter kurvt um die Ecke, stutzt und wackelt mit dem Kopf. »Sorry, Sir …« Der Erste fällt auf die Knie. Was will er, denke ich. Ich wende mich um. Der Glubschäugige ist inzwischen dicht hinter mir und taucht ebenfalls ab. In Höhe meines Gemächts verspüre ich einen Windhauch. Was zum Teufel? Ich wittere Raubtieratem. Ich bin nicht prüde, aber am helllichten Tag, mitten auf dem Flur eines der ersten Hotels Indiens … Hilfe suchend wende ich mich an den Dritten, aber auch der sinkt zu Boden und beginnt an mir herumzunesteln. Hier stehe ich und kann nicht anders. Drei baumlange Kerle von der Palastwache machen sich an mir zu schaffen. Glaubt man das? Der Kopfwackler tastet auf meinem Oberschenkel herum, während der Augenroller das Wadl bearbeitet, das der Erste mit eisernem Griff festhält. Ich blicke an mir abwärts: Linksseitig stehe ich im Freien.

      Man stelle sich vor: Ein Mann mit Rucksack, das Käppchen am Nischel, steht im Ground Floor eines der Top-Hotels dieser Welt, ihm zu Füßen ein paar Sikhs, Angehörige einer der stolzesten Ethnien Indiens, die ihm ans Eingemachte gehen. In welchem Film bin ich gelandet?

      Die Auflösung: Am Flughafen Amsterdam habe ich im Schlussverkauf des Traveller-Ladens Just in Case eine Hose mit abnehmbaren Hosenbeinen erstanden. Nun vollzog sich just in dem Moment, als ich mir den Anschein gab, dem hier gebotenen Luxus mit größtmöglicher Nonchalance zu begegnen, der Worst Case eines kapitalen Toilettenfehlers. Der Zipp hatte sich entzahnt, das Hosenbein, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, war zu Boden geglitten, ich hatte es wohl schon einige Schritte lang nachgeschliffen, daher der kühle Windhauch unten herum. Die freundlichen Herren haben (vergeblich) versucht, mich darauf aufmerksam zu machen.

      Ich erinnere mich, dass vor einigen Jahren die Frau eines berühmten Entertainers anlässlich eines Dinners in einem Wiener Nobelrestaurant, kaum aus der Toilette zurück, das eine Bein ihrer Strumpfhose gleich einer Nabelschnur nachgeschliffen hat. Über diesen Fauxpas lacht die Seitenblicke-Gesellschaft Wiens heute noch.

      Wie man weiß, bedarf es einer ruhigen Hand, das Ineinandergreifen der kleinen Biester eines Reißverschlusses wiederherzustellen. Borsten eines Schnurrbartes streichen über mein Knie. Die Turbantraube bricht in schallendes Gelächter aus. Meine wahre Sorge ist, dass mir die Sikhs die Hose abschwatzen, um sie in der hauseigenen Schneiderei zu verarzten. Ich gestehe, bei großer Hitze erleichtere ich mir gerne das Leben, indem ich auf Dessous verzichte. Das bitte würde der Peinlichkeit die Krone aufsetzen! Ich kralle meinen Hosenbund