»Father!«
Ich trete einen Schritt zurück und schieße ein paar Erinnerungsfotos. Die Kinder bekommen einen Lachanfall, ich stehe mitten in einer Flade. Tina klammert sich an mich. Ich sage »Shit« und tapse zum Ausgang zurück. Rajiv, Tina und die Neue warten schon auf mich.
»Money!«
Die Mädchen bekommen ein Abschiedsgeschenk. »Lord Shiva bless you!«, plappern sie. Ich wackle mit dem Kopf. Die Kleinen rühren mich. Sie haben sich ein schönes Fleckchen ausgesucht, ihr Leben zu beginnen. Nicht das sauberste, aber eines, das die Seele reinigt. Sie wackeln ebenfalls mit den Köpfen. Ich sage: »Thank you«, etwas anderes fällt mir nicht ein. Rajiv ergänzt: »In the name of the cows!« Damit ist alles gesagt. Die Kinder laufen so schnell sie können zwischen den Tieren, die hier Herberge nehmen, davon.
Draußen vor der Panjrapole Gaushala, der Kuhherberge, fallen mir einige seltsame Verkaufsstände auf, an denen ein begehrtes Naturprodukt verhökert wird: Kuhfladen. Drinnen wären sie noch gratis gewesen, hier kosten sie was. Getrocknet eignen sie sich bestens als Brennmaterial, auch als Opfergabe. Verbrennt man sie im heimischen Herd, wird der Geschmack der Speisen angeblich verbessert. Die Fladen gibt es übrigens in zwei Geschmacksrichtungen: Die hellen sind kostbarer als die dunklen. Rajiv und die Kinder haben es schon begriffen: Hier wird auch noch aus Scheiße Geld gemacht.
Die große Seele
Mumbai, 18. Februar
Es ist Sonntag. Marine Drive wird die Uferpromenade entlang der großen Bucht genannt. Ich habe noch keine prächtigere gesehen: Das Green vor dem Hotel Galle Face in Colombo, der Malecón in Havanna, die Uferstraßen von Piräus, San Sebastián oder Singapur, sie alle wirken alt gegen den Marine Drive in Mumbai: Fünf Kilometer am türkisfarbenen Wasser entlang. Hier auf der Prachtmeile stehen die Millionärsbuden dicht an dicht. Überall wird gehämmert und gebohrt, Gerüste werden errichtet und mit Tüchern, Blumen und bunten Schirmen geschmückt. Von Weitem schon sind die Trommeln zu hören, drängend, dem Rhythmus des Herzens nachempfunden. Die Musiker werden umringt von prächtig geschmückten Mädchen, die wiederum sind umgeben von Hochzeitsgästen. Alles dreht sich, schnell, immer schneller, begleitet von den Aufmunterungsrufen der Brauteltern. Die Tänze werden ekstatisch. Trommelschläge. Kostbare Gewänder glitzern in der Vormittagssonne. Die Frauen tragen Tonnen von Gold- und Silberketten, Armreifen, Schleier, Schals, sie sind in grellbunte Farben gehüllt, duftend nach Jatamansi, Ambra und Moschus. Hoch zu Ross der Zeremonienmeister, auch er in feinster Seide. In der Hand hält er einen kostbaren Sonnenschirm, auf seinem Schoß ein etwa fünfjähriges Mädchen. Sie symbolisiert das Ebenbild der Braut. Die Kleine scheint einer Geschichte aus tausendundeiner Nacht entsprungen zu sein. Scheinbar geringschätzig nimmt sie das Treiben wahr. Nur dann und wann hebt sie ihr Köpfchen und bezeugt ihren Untertanen für diesen einen einzigen Moment huldvolle Aufmerksamkeit. Das Feenwesen trägt eine viel zu große Sonnenbrille. Jung und Alt klatscht in die Hände und wirbelt herum, der kleinen Braut zu Ehren. Sogar der Chronist wird von einem der Tänzer, der der Bräutigam sein könnte, in den Kreis gebeten.
Die eigentliche Hochzeitsfeier findet später auf den Rasenflächen der umliegenden Parks statt, an den festlich gedeckten Tafeln, abgeschirmt vom Sonntagsverkehr, durch den silberne Hochzeitskutschen im Minutentakt rollen, auch sie von Trommlern und Festgästen umringt. Zeremonien dieser Art kosten ein Vermögen, hunderttausendmal mehr als sich die, die mit ihren Familien nebenan am Strand von Chowpatty bei einer der Imbissbuden hocken und ihr bescheidenes Mittagsmahl einnehmen, vorstellen können.
Dort, wo das andere Mumbai feiert, finde auch ich mich ein. Die International Society for Krishna Consciousness bittet zur Ausspeisung. In einem Innenhof an der Vachha Gandhi Road, gleich neben dem Strand, findet die Party statt. Jeder ist willkommen. Ich bekomme einen Pappkarton in die Hand gedrückt, darauf ist ein köstlich scharfes Jain Bhel Puri, eine Speise der Jains – orthodoxe Vegetarier, die nichts zu sich nehmen, was durch Gewaltanwendung an Flora oder Fauna zum Verzehr gelangt. Das Pflücken von Früchten ist verboten, sie müssen vom Boden aufgelesen werden. Aus Furcht, auf ein Lebewesen zu treten, beseln die Jains akribisch ihren Weg frei. Ich esse eine Mischung aus Pinienkernen, Zwiebeln, Petersilie, Kartoffeln, Kichererbsen, zerkleinertes Fladenbrot, Pfefferoni und eine Art Teigwarenreis. Ein kulinarischer Hochgenuss. Alle sitzen am Boden und schlagen sich, friedlich vor sich hinlächelnd, die Bäuche voll. Gottvoll das Linsen-Dhal mit Spinat-Paneer, vermengt mit gebratenen Pfefferonis, gekrönt von scharf eingelegten Mangostückchen.
Ein Mann gesellt sich zu mir und erzählt in astreinem Deutsch, wie gut ihm Europa, speziell Österreich und Wien gefallen, wie sauber und nett die Menschen seien und wie hervorragend ihm das Essen dort schmecke. Er liebe das alles. Besonders das Schweinefleisch habe es ihm angetan. Ich stelle mir vor, wie 1,3 Milliarden Inder gemeinsam mit der Wiener Bevölkerung vor dem Figlmüller am Boden hocken und Gebackenes in sich reinkrusteln. Die fröhlichen Jains, das herrliche Mahl, der Wien-Verliebte, heute wurde mir im Namen Lord Shivas eine Türe zum Nirwana geöffnet.
»Sollte ich durch die Kugel eines Verrückten sterben, werde ich lächeln.« Wenig später eröffnet sich mir gleich nebenan in einem kleinen Haus nahe der Back Bay, am Busen des Arabischen Meeres, eine andere Welt: Ich sitze in der kleinen Bibliothek des Mani Bhavan Gandhi Sangrahalaya. Dr. Mohandas Karamchand Gandhi, die »Große Seele« Indiens, hat hier gewohnt, gearbeitet, geschrieben und – gesponnen. Seine Kleider bestanden hauptsächlich aus groben Tüchern, die der Philosoph und Politiker in Heimarbeit hergestellt hat. Seine Sandalen, die randlose Brille, das Bett, das Spinnrad, all das ist hier zu besichtigen. Im ersten Stock dokumentieren Puppen sein Leben und unzählige Bücher sind archiviert, in denen seine Gedanken bis heute überleben. Ich vergesse die Zeit. Hier, inmitten von Millionen von Buchstaben, fühle ich mich beschützt.
Der Museumsdiener löscht das Licht. Draußen breitet der Himmel seine samtene Decke über die Stadt und in den Häusern und Hütten legen die Kinder Mumbais ihre Köpfe auf die Pölster. Ich packe meine Schreibsachen ein, die anderen Besucher sind längst schon gegangen. Im Vorraum hängt ein verblichenes Foto von Dr. Gandhi. Zwinkert er mir zu? Ist das möglich? Die Türe fällt ins Schloss. Doch, mir ist, als hätte er gelächelt – und wenn nur für den Moment einer kleinen Ewigkeit lang.
Liebe auf Rädern
Mumbai, 19. Februar
Mit Ahmed ist nicht zu spaßen. Er ist einer von vier Millionen Moslems, die in der Riesenstadt leben. Fünf Mal pro Tag ist das scheppernde Rufen des Muezzins zu hören. Dann ist Vorsicht geboten: Ein Fünftel der Bevölkerung fällt unmittelbar darauf auf die Knie. Über einen betenden Sohn Allahs zu stolpern, kann schwierig werden. Ahmed fährt Taxi. Er bringt mich zu einer der vielen Seltsamkeiten Mumbais. Am Rückspiegel baumeln ein paar Chilischoten, nebst einer Limone. Ich frage, wofür das gut sei. Wogegen wäre die bessere Frage. Ahmed sieht mich an, als wollte er mir einen Dolch in die Brust stoßen. Früh am Morgen ist der Verkehr entsprechend dürftig, eine Stunde später wäre der Blick verhängnisvoll gewesen. Bedächtig wendet er sich wieder nach vorne. Achmed hat die Fahrgeschwindigkeit nicht reduziert. Vielleicht gilt das Glücksgemüse all jenen, deren Fragen nerven.
Für die Fahrt quer durch Mumbai verlangt er zweihundert Rupien Fixpreis. Auf den Taxameter wird gepfiffen. Die Chilis schlackern. Ahmed vermeidet kein Schlagloch und davon gibt’s hier jede Menge. Ich versuche ihn dazu zu bringen, die Zeituhr einzuschalten. Abrupt hält er und öffnet die Türe. Null zu eins. Wir brausen weiter in Richtung Mahalaxmi Station. Mitten auf einer Brücke bremst er jäh ab. Ich reiche ihm das abgezählte Geld und steige aus. Er gibt Gas, der Muezzin ruft. Ich stehe verloren am Geländer, neben mir eine Kuh, unter mir ein verwirrendes Muster an Bahngleisen.
Rechter Hand