Die Feuerwehrfrau, ihre Ärztin, deren Mutter und das ganze Dorf. Lo Jakob. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lo Jakob
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956093203
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      Lo Jakob

      DIE FEUERWEHRFRAU, IHRE ÄRZTIN, DEREN MUTTER UND DAS GANZE DORF

      Roman

      © 2020

       édition el!es

      www.elles.de [email protected]

      Alle Rechte vorbehalten.

      ISBN 978-3-95609-320-3

      Coverillustration:

       iStock.com/Dmytro Beridzer

1. Akt

      1

      Willas letzte Schicht in der Notfallambulanz forderte noch einmal alles von ihr und zeigte ihr ganz deutlich, warum sie hier so dringend weg wollte. Weil sie vollkommen ausgelutscht wurde von dem ständigen Wahnsinn, der hier mit schöner Regelmäßigkeit ausbrach.

      Vor ihrer Nachtschicht, ihrem letzten Einsatz auf ihrer alten Station, war sie tatsächlich etwas wehmütig geworden. Sie würde die Kolleginnen und Kollegen vermissen. Nicht alle, aber die, mit denen sie gern zusammenarbeitete. In Zukunft würde sie mit ihrer medizinischen Fachangestellten allein in der Praxis sein. Wenn sie dann eine eingestellt hatte.

      Sie hatte ein wenig Bammel davor, so gänzlich auf fachlich-kollegiale Hilfe verzichten zu müssen, ganz auf sich allein gestellt zu sein. Deshalb hatte sie vor Schichtbeginn, noch zu Hause, eine kleine Krise hingelegt und sich kurz eingebildet, dass sie eigentlich die ideale Ärztin für die Notfallambulanz wäre. Und überhaupt die Notfallambulanz der perfekte Arbeitsplatz. All das und noch mehr an realitätsverdrehendem Zeugs war ihr durch den Kopf gegangen.

      Es hatten sie ja immer wieder Zweifel gepackt, ob sie nicht den größten Fehler ihres Lebens beging, ihre Stelle im Universitätsklinikum aufzugeben und Hausärztin auf dem Land zu werden.

      Nicht irgendwo auf dem Land, sondern genau in dem vermaledeiten Kaff, in dem sie großgeworden war und in dem immer noch der Großteil ihrer Verwandtschaft wohnte. Herrgott, die Hälfte des Dorfes hieß Schneck wie sie. Vermutlich waren in Zukunft all ihre Patientinnen und Patienten mehr oder weniger mit ihr verwandt. Da würde sie sich vermutlich wieder in dieses geordnete Chaos hier im Klinikum zurückwünschen. Auch wenn sie jetzt gerade am liebsten vor Müdigkeit nichts mehr hören und sehen wollte und sich ein Husten eines Cousins vierten Grades nach einem ärztlichen Traum anhörte.

      Aber nein. Noch fünf Stunden Wahnsinn aller Arten. Und sie meinte nicht den der psychischen Sorte, sondern den, der hier Alltag war und der Verletzungen aller Arten mit sich brachte.

      Ihr nächster Fall würde da keine Ausnahme bilden, wenn sie das lautstarke Gezeter der afrikanischen Großfamilie im Wartebereich richtig einschätzte. Normalerweise wäre sie erst in ihrem Behandlungszimmer auf ihre nächste Patientin gestoßen, weil normalerweise eine der Krankenschwestern oder -pfleger die Einteilung der Patienten und die Sondierung machte. Aber heute war wieder so viel los, dass sie von Georg einfach nur die Unterlagen in die Hand gedrückt bekommen hatte, als er an ihr vorbeigestürmt war. Er wusste, dass sie eine der Ärztinnen war, die sich auch mal einen Patienten selbst aus dem Wartebereich holten.

      Schon in der nächsten Sekunde wurde sie bestürmt, als sie durch die Doppeltür trat, die den Behandlungsbereich abtrennte. In einem zuerst völlig unverständlichen Englisch texteten mehrere Menschen gleichzeitig auf sie ein. Es war ihr unmöglich, irgendetwas aufzuschnappen, und sie wedelte einhaltgebietend mit den Händen, was absolut nichts bewirkte. Wer war hier eigentlich der Notfall? Alle, die um sie herumstanden, mit ziemlicher Sicherheit nicht. Da sah sie keine Verletzungen, und die Männer und Frauen der Großfamilie wirkten auch alle quicklebendig.

      »Please, please, I don’t understand a word you say.«

      Noch während sie versuchte, durch beschwichtigende Gesten Ruhe in die Angelegenheit zu bringen, sah sie durch eine Lücke eine schwangere Frau, die mit gesenktem Kopf noch immer saß und an die sich zwei kleine Kinder klammerten. Einer Intuition folgend drängte sie sich durch die Gruppe und näherte sich der Frau. Sie hatte eine Art Turban auf dem Kopf und war in ein buntes afrikanisches Gewand gekleidet, wie die anderen Frauen, die dabei waren. Die Männer hingegen trugen alle Jeans und T-Shirts.

      Einer davon drängte sich neben sie. »My wife. Headache. All the time. You understand?« Er zeigte auf seinen Kopf und dann auf den seiner Frau.

      »I understand«, antwortete Willa. »Does she speak English?« Die Frau hob den Kopf noch nicht einmal an, als Willa sich neben sie setzte.

      »A little. I can speak for her«, sagte der Ehemann sehr selbstsicher, aber sein Englisch hörte sich nicht so gut an, dass er verstehen würde, was sie von ihm wissen musste.

      Willa atmete einmal tief durch. Das würde nicht leicht werden. Mit Kommunikationshindernissen eine Diagnose zu stellen, war eine echte Herausforderung. Sie würde sich mehr auf die Untersuchungsergebnisse stützen müssen, als sich auf irgendwelche Aussagen zu verlassen. Was wusste sie schon, wie in der Kultur, aus der ihre neue Patientin stammte, mit Krankheit umgegangen wurde. Wie über Symptome gesprochen wurde. Vielleicht sprach man manche Dinge nicht aus wegen gesellschaftlicher Tabus, vielleicht überzeichnete man andere.

      Seufzend erhob sie sich. »Please follow me.«

      Als Willa merkte, dass offenbar alle Anwesenden vorhatten, die Patientin zu begleiten, war ihr klar, dass die Schwierigkeiten bereits in diesem Moment anfingen.

      Zwanzig Minuten später hatte sie die Patientin endlich in ihrem kleinen Behandlungsraum, eine weitere Stunde später war die schwangere Frau mit einem ersten Verdacht auf Station aufgenommen und ihre Verwandtschaft nach Hause geschickt.

      Willa war mit sich zufrieden, weil sie sich sicher war, das Richtige für die Frau getan zu haben, aber Erschöpfung war ein zu schwaches Wort für ihren Zustand nach diesem Fall.

      Sie machte sich auf die Suche nach einer dringend benötigten Tasse Kaffee. Der schmeckte hier zwar so, als ob er nach drei Tagen noch einmal aufgewärmt worden wäre und schon vorher eine richtige Kaffeebohne nur von Weitem gesehen hätte, aber heute Nacht war sie nicht zimperlich. Sie brauchte das Koffein, um durchzuhalten.

      Im Stationspausenraum goss sie sich in einen großen Humpen, den irgendjemand mit dem Namen Manuela zurückgelassen haben musste, denn das stand in großen, bunten Buchstaben darauf, eine ausreichende Menge der rabenschwarzen Flüssigkeit ein.

      Sie beging den Fehler, auf dem Weg zu einer Sitzgelegenheit in den angeschlagenen Spiegel zu schauen, der an der Wand hing. Sie sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Die Ringe unter ihren Augen zeigten die Anzahl ihrer Nachtschichten an – fünf am Stück. Selbst ihre Haare sahen müde aus.

      Normalerweise waren ihre Augen und ihre Haare das, was Willa an sich am meisten mochte. Ihr rotbrauner Kurzhaarschnitt betonte ihre grün-braunen Augen. Ihre gerade Nase war nichts Besonderes, aber sie wusste, dass ihr Mund ausdrucksstark war. Zumindest hatten das Menschen, die ihr Komplimente machen wollten, schon des Öfteren gesagt.

      Heute würde sie jedenfalls keine Komplimente erhalten, so viel stand nach einem weiteren kritischen Blick fest. Das Weiß ihres Kittels betonte das Lebende-Leiche-Aussehen noch. Da half auch das grüne T-Shirt, das sie darunter trug, nichts.

      Willa wandte sich von dem Elend im Spiegel ab. Sie ließ sich auf einen der stapelbaren Industriestühle sinken und ignorierte mit einer Selbstverständlichkeit, die nur durch lange Übung kam, die Scheußlichkeit ihrer Umgebung. Ihr Blick schweifte über die kargen weißen Wände, die verkratzten Tische und das Sammelsurium an Kaffeetassen, ohne sie weiter wahrzunehmen.

      Erschöpft ließ sie ihre Gedanken kreisen und trank den Kaffee in großen Schlucken wie ein Verjüngungselixier.

      Für ihre neue Praxis hatte sie als Erstes eine kleine Maschine angeschafft, die auch Milch schäumen konnte und die Bohnen für jede Portion frisch mahlte. Ihr Vorgänger, der bereits vor zwei Jahren altersbedingt aufgehört hatte, hatte eine alte Standardmaschine zurückgelassen. Niemand hatte seither das verkalkte alte Ding weggeworfen. Sie würde ganz schön ausmisten müssen in der Praxis. Dafür gab sie sich mindestens zwei