Die Oberschwester kommt rein. Ich frage mich, ob man diese Art von Geschäftigkeit auf der Krankenpflegerschule lernt. Sie macht Tiernans Kittel auf. Oberschwestern prüfen normalerweise nicht, ob die Rasur korrekt ist, aber vor ein paar Wochen habe ich versehentlich die falsche Seite rasiert.
»Wie geht es Ihnen, Mr Tiernan?«, fragt sie. Das sagt sie, um darüber hinwegzutäuschen, dass sie meine Arbeit überprüft.
»Ich hab einen Höllendurst«, sagt er.
»Es dauert nicht mehr lange«, sagt sie. »Bald ist es vorbei.« Sie spricht mit mir, ohne mich anzuschauen.
»Karlsson, bringen Sie Mr Tiernan bitte um Viertel vor vier nach unten in den OP.«
»Hoffentlich passiert unterwegs nichts Unvorhergesehenes«, sage ich. Aber sie hört nicht hin.
Er lümmelt auf seinem Stuhl und tippt sich mit dem Ende seines Bleistifts gegen die Lippen.
»Du nennst mich immer noch Karlsson«, sagt er.
»Genau genommen sind es die anderen Charaktere, die dich Karlsson nennen.«
»Sie sollen mich Billy nennen.«
»Das könnte ich ändern, klar. Aber wenn du Billy wirst, bist du nicht mehr Karlsson.«
»Ich bin nicht mehr Karlsson.«
»Nicht für mich oder dich. Aber wenn die anderen Personen dich Billy nennen, dann erwarten sie, dass du auch so aussiehst wie jemand, der Billy heißt. Und dann muss ich mir die Mühe machen, dein Aussehen zu ändern, und zwar jedes Mal, wenn es beschrieben wird. Deine Haare, deine Augen, die Art, wie du läufst…«
»Ändern wir das jetzt, oder ändern wir das nicht?«
Sein Ton gefällt mir nicht.
»Ich will dir ja nicht zu nahe treten, Billy, aber ich tu dir hier einen Gefallen. Okay? Und da wir das zusätzlich zu meiner anderen Arbeit machen, können wir uns nicht mit jedem winzigen Detail herumschlagen. Du musst dir deine Rolle mehr wie ein Schauspieler vorstellen. Kapiert? So tun, als wäre die Geschichte ein Film von Mike Leigh oder einer von diesen Dogma-Streifen. Du fügst einfach hier und da etwas zu der Karlsson-Rolle hinzu, erfindest neue Dialoge, einen Spleen, eine Marotte.
Veränderst ihn so, dass er dir mehr ähnelt, aber du solltest vorsichtig rangehen. Wie findest du das?«
Er braucht eine Weile zum Überlegen.
»Okay«, sagt er dann. »Ich kann’s ja mal probieren.«
»Prima. Also pass auf. Ich hab mir überlegt, dass wir diesen Kram mit dem Papst und Camus weglassen.«
»Welchen Kram?«
»Diese Torwartsache.«
Er schüttelt den Kopf. »Kann mich nicht daran erinnern. Was hab ich denn dazu gesagt?«
Albert Camus und Papst Johannes Paul II. waren beide in ihrer Jugend Torwarte. Ich stelle mir vor, wie sie an den entgegengesetzten Seiten des Stadions stehen und sich gegenseitig den Ball zuspielen, während die Hooligans auf ihren Plätzen den Aufstand proben.
Als ehemalige Torwarte haben Camus und Papst Johannes Paul II. vielleicht oder vielleicht auch nicht gekichert, als sie von James Joyces Anspruch lasen, er wolle gleichzeitig Wärter und Kreuziger des Bewusstseins seiner Nation sein.
Was mich betrifft, so wurde ich geboren. Später lernte ich lesen, dann schreiben. Seitdem beschäftige ich mich größtenteils mit Büchern. Mit Büchern und mit Masturbieren.
Schreiben und Masturbieren haben gemeinsam, dass sie für temporäre Erleichterung sorgen und die Illusion vermitteln, man hätte etwas erreicht. Viele große Schriftsteller sind begeisterte Onanisten gewesen, und viele begeisterte Onanisten waren große Schriftsteller. Der einzige wesentliche Unterschied ist, ob für sie das Wichsen oder das Schreiben zuerst kommt.
Was mich betrifft, ich schreibe was, hole mir einen runter und gehe ins Bett. Nur ein Barbar würde zuerst wichsen und dann schreiben.
Mein Zitat für den heutigen Tag stammt von dem dänischen Schriftsteller Isak Dinesen: Ich schreibe jeden Tag ein bisschen, ohne Hoffnung und ohne Verzweiflung.
Jonathan Williams ist ein amüsanter Waliser, auch wenn er dem Hollywood-Klischee eines netten englischen Professors sehr ähnelt.
»Nein«, sagt er. »Ich hab die Karlsson-Geschichte niemandem gegeben.« Seine Stimme dröhnt durchs Telefon. »Ohne deine Erlaubnis würde ich das niemals tun.«
»Nicht mal, um ein Leservotum zu bekommen?«
»Soweit ich weiß nicht. Und ich würde mich bestimmt daran erinnern«, lacht er. »Ein Leservotum über dieses besondere Prachtstück.«
»Deshalb frage ich ja.«
»Warum? Gibt’s ein Problem?«
»Nicht direkt ein Problem.« Ich erzähle ihm, dass ich eine Auszeit genommen habe, sechs Wochen Klausur zum Schreiben, und von Billys Idee, die Karlsson-Geschichte zu überarbeiten. »Ich frage mich nur, wie er an die Geschichte rangekommen ist.«
»Ich habe keine Ahnung«, sagt er. »Von mir hat er sie bestimmt nicht bekommen.«
Jonathan ist nicht mehr mein Agent, aber da er ein guter Kerl ist, fragt er noch, wie’s bei mir so läuft. Ich erzähle ihm, dass mein Lektor bei Harcourt mich wegen des Abgabetermins bedrängt.
»Vergiss ihn«, mahnt er. »Mach es gut, das ist das Allerwichtigste. In zehn Jahren interessiert sich niemand dafür, ob du den Abgabetermin eingehalten hast oder nicht.«
Die Worte eines Heiligen.
»Falls es dir nichts ausmacht, würde ich dich gern was fragen…«
»Schieß los.«
»Hast du dich beim Arts Council beworben, damit sie die Kosten deiner Klausur tragen?«
»Hab ich, ja, aber ich hatte kein Glück. Anscheinend werden Kriminalkomödien nicht gefördert.«
»Ich nehme an, du hast nicht die Karlsson-Geschichte eingereicht«, sagt er.
»Doch, hab ich. Sie wollten ja Arbeitsproben von mir haben, und Karlsson lag halt herum.«
»Das ist wahrscheinlich die Lösung«, sagt er. »Jemand vom Arts Council hat die Geschichte gelesen und sie deinem Freund Billy gegeben. Das ist natürlich nicht die feine Art, aber es erklärt alles.«
»Und ich kann nicht herauskriegen, wer es gelesen hat?«
»Wahrscheinlich nicht. Solche Gutachten sind in der Regel anonym, um Mauscheleien auszuschließen. Aber ich kann ja mal diskret nachfragen, wenn du willst.«
»Das wäre super.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagt er. »Wegen der Rechte, meine ich. Falls es irgendwann Probleme geben sollte, dann erzähle ich allen, die danach fragen, dass ich das Manuskript in seiner ursprünglichen Form gelesen habe und dass du der einzige Urheber bist.«
»Vielen Dank, Jonathan.«
»Keine Ursache. Oh, und sag doch bitte Anna, dass ich nach ihr gefragt habe, wenn du sie das nächste Mal siehst. Sie ist wirklich nett, findest du nicht?«
Anna MacKerrig, die Tochter von Lord Lawrence MacKerrig, der als nobel gesonnener Adeliger und schottischer Presbyterianer vor zwanzig Jahren die Künstlerresidenz in Sligo gegründet hat.
»Ich hab sie schon länger nicht mehr gesehen, aber ich richte