Codename Brooklyn.. Peter Pirker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Pirker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783702237578
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fast nur durch Bombardierungen möglich. Da das NS-Regime die Produktion bald unter Tag verlegte, spielten Angriffe auf Transporte und das Lahmlegen der Verkehrsadern eine wichtige Rolle. Bombardements waren jedoch unpräzise, aufwendig und mit unnötigen Zerstörungen und Todesopfern verbunden. Deshalb bekam in Ländern wie Frankreich, Italien, Griechenland und vor allem Jugoslawien die Sabotage der Verkehrswege am Boden einen großen Stellenwert, ausgeführt von lokalen Partisanen. Erfolgreiche Anschläge auf große Eisenbahnviadukte wie im griechischen Gorgopotamos, durch Teams britischer oder amerikanischer Agenten und lokale Partisanen, wirkten zudem wie Fanfarenstöße dazu, den deutschen Besatzungstruppen militanten Widerstand zu leisten.

      Im Deutschen Reich selbst gab es mit der Ausnahme von Kärnten und – für kurze Zeit und in kleinerem Rahmen – der Steiermark keine Partisanen. Umso gefragter waren präzise Angaben über den Verkehr auf den Haupttransportlinien. Eine der wichtigsten war die Eisenbahnstrecke über den Brennerpass, die Deutschland mit Italien verband. Es dauerte lange, bis es den westlichen Alliierten endlich gelang, ein Spionageteam in Innsbruck, einem zentralen Knotenpunkt des Schienennetzes zwischen der Waffenproduktion und den Fronttruppen in Italien, zu platzieren. In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1945 sprangen im Auftrag des US-amerikanischen Geheimdiensts Office of Strategic Services (OSS) zwei hochtrainierte jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und den Niederlanden mit einem ortskundigen österreichischen Wehrmachtsdeserteur per Fallschirm über den Stubaier Alpen ab, um in der Nähe von Innsbruck eine geheime Funkstation einzurichten, präzise Informationen über militärische und verkehrstechnische Angriffsziele zu sammeln und an die Kommandostellen der alliierten Streitkräfte in Süditalien zu senden. Zusätzlich sollten sie die tatsächliche politisch-militärische Strategie des NS-Regimes im Alpenraum erkunden. Denn nachdem die alliierten Armeen die »Festung Europa« (Adolf Hitler) geknackt hatten, beschäftigte die westlichen Nachrichtendienste und Kommandostellen seit Herbst 1944 das Gespenst einer ›Alpenfestung‹, das die NS-Propaganda geschickt in die Welt gesetzt hatte. Bei den westlichen Alliierten firmierte diese vermeintliche Strategie meist unter dem Begriff ›alpine redoubt‹, einer letzten Schanze in den Alpen, in der sich die Nazi-Führung einbunkern könnte.1

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      001 Brenner im Visier: Karte der US Air Force, April 1945.

      Damit sind die ursprünglichen Aufgaben der Operation ›Greenup‹ skizziert – eines geheimdienstlichen Unternehmens, das die OSS-Abteilung für Deutschland und Österreich im Frühjahr 1945 in Tirol durchgeführt hat. Zur spektakulärsten Spionagemission auf dem gesamten mediterranen Kriegsschauplatz, zu dem die österreichischen Alpen gehörten, wurde die Operation aus Sicht des OSS aber erst in den letzten Kriegstagen. Am 3. Mai gelang es den Agenten nach einer Abfolge dramatischer Ereignisse, im Kerngebiet der ›Alpenfestung‹ einen vorzeitigen Waffenstillstand herbeizuführen, den Leiter des Gaus Tirol-Vorarlberg und Obersten Kommissar der ›Operationszone Alpenvorland‹, Franz Hofer, und seinen Stab festzunehmen, Innsbruck den US-Truppen kampflos als ›freie Stadt‹ zu übergeben und damit das Leben vieler ihrer Soldaten zu retten.2 Am 25. April 2013 bezeichnet der demokratische Senator Jay Rockefeller bei einer Rede im Kongress der Vereinigten Staaten die Operation Greenup sogar als einen der erfolgreichsten OSS-Einsätze im Zweiten Weltkrieg überhaupt.

      Die Geschichte der Operation Greenup wird in diesem Buch rekonstruiert. Der Fokus liegt dabei auf den beteiligten Akteuren: den Agenten, ihren Helferinnen und Helfern sowie ihren Gegenspielern in den Herrschafts- und Polizeiapparaten des NS-Regimes.

      Das ausführende Team der Operation Greenup bestand aus drei jungen Männern. Fred Mayer, 23 Jahre alt, und Hans Wijnberg, 22 Jahre alt, waren Juden, die vor dem Rassenwahn der Nationalsozialisten in die USA geflohen waren – Mayer 1938 mit seiner gesamten Familie aus Freiburg im Breisgau, Wijnberg 1939 mit seinem Zwillingsbruder Loek aus Amsterdam. Beide landeten in Brooklyn, New York. Die Eltern der Wijnbergs hatten ihre Buben schweren Herzens, aber in Voraussicht des deutschen Überfalls auf die Niederlande über den Atlantik geschickt, ihre eigene Flucht mit dem jüngsten Sohn scheiterte jedoch: Die Nationalsozialisten ermordeten sie in Auschwitz und Tschechowitz. Der Dritte im Bunde war Franz Weber, ein 24-jähriger Wehrmachtsleutnant aus dem tiefkatholischen Bauerndorf Oberperfuss bei Innsbruck. 1940 durchaus begeistert in den Krieg gezogen, entschied er sich im September 1944 nach langen Einsätzen in Polen, Russland, Jugoslawien und zuletzt Italien, aus Hitlers Armee zu desertieren, die Seiten zu wechseln und nun auf möglichst effektive Weise zum Kampf gegen die Wehrmacht beizutragen, die in seinen Augen an der Dystopie eines ›KZ Europa‹ maßgeblich mitgewirkt hatte. Im Dezember 1944 erklärte er sich in einem Kriegsgefangenenlager in einem Gespräch mit dem OSS-Offizier Dyno Loewenstein, Sohn des Berliner Sozialisten und Pädagogen Kurt Löwenstein, bereit, Mayer und Wijnberg nach Tirol zu begleiten, sie in sein Heimatdorf zu führen, dort unterzubringen und die ersten Kontakte nach Innsbruck herzustellen, um das Ausspionieren des Eisenbahnverkehrs über den Brenner zu ermöglichen. Mehr als 60 Funksendungen tauschte Wijnberg, der Funker der Gruppe, mit der OSS-Basis in Bari aus.

      Am 20. April 1945 wurde Fred Mayer von einem Sonderkommando des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts der SS (BdS) Verona festgenommen und in der Gestapostelle Innsbruck schwer gefoltert. Hans Wijnberg und Franz Weber blieben bis zur Befreiung unentdeckt. Mayer gelang es aus der Gestapohaft heraus, in Verhandlungen mit Gauleiter Hofer zu treten und ihn zur Aufgabe der Verteidigung Innsbrucks zu bewegen. Das machte ihn zu einem Helden der amerikanischen Literatur zum Zweiten Weltkrieg. Die Geschichte der Operation Greenup wurde tatsächlich lange ausschließlich in den USA tradiert und im deutschsprachigen Raum kaum zur Kenntnis genommen. In dieser ›amerikanischen‹ Heldengeschichte stehen die außergewöhnlichen Leistungen Mayers im Zentrum, »one of the most spectacular individual soldiers of this war«, wie es im Blue Book, dem populären amerikanischen »Magazine of Adventure for Men, by Men«, schon im April 1946 in einer langen Story über die Operation Greenup hieß. Geschrieben wurde sie vom OSS selbst, von Lieutenant Alfred C. Ulmer, dem operativen Leiter der OSS-Abteilung für Deutschland und Österreich. Die seither in den USA in mehreren Büchern erschienenen Darstellungen folgen im Wesentlichen seiner Erzählung: Joseph E. Persicos Buch Piercing the Reich, Gerald Schwabs Band OSS Agents in Hitler’s Heartland und schließlich Patrick O’Donnells Drama They Dared Return.3 Ihre Rekonstruktionen beruhen fast ausschließlich auf Dokumenten des OSS und Interviews mit den beteiligten Agenten – also genau dem, was Ulmer neben seiner eigenen Beteiligung schon 1946 an Quellen zur Verfügung stand. Alle drei Bücher waren eine unverzichtbare Grundlage für das vorliegende Buch, auch um eine partiell andere Sichtweise auf die Operation Greenup zu gewinnen.

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      002 Erste Story über die Operation Greenup im Blue Book Magazine, April 1946.

      Besonders wertvoll war Persicos ›oral history‹, die er in den späten 1970er- Jahren zu den OSS-Einsätzen im Deutschen Reich intensiv betrieben hat. Er befragte die Agenten und die Mitarbeiter des OSS zu den Motiven, Hintergründen und Verläufen der Spionageeinsätze. Nach seinem Tod wurden die Interviews im Archiv der Hoover Institution an der Stanford University hinterlegt, digitalisiert und für die Forschung zugänglich gemacht. Von den Greenup-Agenten interviewte Persico Fred Mayer und Franz Weber, außerdem den Ideengeber und Erfinder der Operation, Dyno Loewenstein, sowie Al Ulmer. Nachdem alle Beteiligten bereits verstorben sind, erwiesen sich diese Interviews als eine inspirierende Quelle sowohl für das Verständnis der historischen Ereignisse als auch für die Art und Weise der Erinnerung daran im Kontext der späten 1970er-Jahre, als sich die Geschichtsordnungen des Kalten Krieges aufzulösen begannen und der Holocaust in das Zentrum der Betrachtung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs rückte.4

      Die Aktivitäten von Fred Mayer, Hans Wijnberg und Franz Weber waren ungemein voraussetzungsreich. Inmitten einer auf den ersten Blick ziemlich stabilen nationalsozialistischen Volks- und Kriegsgemeinschaft waren sie auf Menschen angewiesen, die unter Einsatz ihres Lebens bereit waren, sie aufzunehmen, zu versorgen, ihnen zu helfen, an die gesuchten Informationen heranzukommen, mit einem Wort: sich auf ihre Seite zu stellen oder sich zumindest partiell mit ihnen einzulassen. Mayer, der den Einsatz operativ leitete,