– Richtig Steine kann man damit nicht verdienen, oder?
– Wer? Ich oder die Scammer?
– Die Scammer.
– Wenig Aufwand. Ein wenig chatten, flirten, Verständnis vorspielen und schauen, ob nicht einer von den Fischen, die man da fängt, doch eine fette Kuh ist, die man melken kann.
– Das ist alles, was du machst?
– Cybermobbing, Eltern, die ihr Kind schützen möchten, Scam-Mails, Überprüfung von Webseiten, Leute, die in Shops bestellt haben, die nicht liefern, Fake-Wohnungsangebote, Fake-Jobangebote, Betrug eben, manchmal Urheberrechtssachen oder Erpressungen, wenn der Rechner infiziert ist. Es gibt viele Leute, die sich im Stich gelassen fühlen und jemanden brauchen, dem sie vertrauen können, wenn es ums Internet geht.
– Du arbeitest für Opfer.
– Ja, sagte ich. Aber du arbeitest immer für Opfer. Egal wie du es drehst und wendest.
Er hatte offensichtlich eine andere Meinung, hielt aber seinen Mund.
Savaş starb, als Phantom of the Rapra erschien, da war ich ein Jahr älter als Lesane jetzt. Hirntumor. Er mochte mich, er mochte mich gerne, auch wenn wir nie viel miteinander gesprochen haben. In der Anfangszeit des Tumors war er häufiger redselig, aber auch sprunghaft, erst in den letzten Wochen wurde er so aggressiv. Einmal saßen wir zusammen im Wohnzimmer. Kamber war nicht da.
– Mein Sohn, hatte er gesagt, die Deutschen sind stolz auf ihre Arbeit, die gehen unter Tage und sind stolz darauf. Die schippen Kohle und sind stolz drauf. Ich war nie stolz auf meine Arbeit. Ich war stolz, dass ich meinen Eltern Geld schicken konnte, weil sie zu alt zum Arbeiten sind, ich war stolz, dass ich meinem Bruder helfen konnte, nachdem er den Arm verloren hatte, aber ich war nie stolz auf die Arbeit hier. Ich habe nur geschwitzt und geschuftet, zu jeder Zeit, die sie mich an diesem Hochofen haben wollten, war ich da. Mein ganzes Leben habe ich da ausgeschwitzt. Ein Vater möchte seinen Söhnen etwas beibringen. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre Arzt geworden oder Anwalt oder auch nur Übersetzer. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre etwas geworden, von dem ich meinen Söhnen sagen kann: Das ist gut. Ihr könnt so werden wie ich. Aber ich habe nur versucht euch beizubringen, wie man nicht so wird wie ich. Und wie soll man seinen Söhnen so etwas beibringen? Aber wir sind immer aufrecht gestanden. Ganz vorne. Wir haben uns nie versteckt und wir haben immer versucht, euch zu beschützen. Aber ich weiß nicht, ob das etwas zählt. Wo sind sie, die Helden, die starken Männer, die, die sich für groß gehalten haben? Sie sind tot, wie alle anderen. Es ist eine vergängliche Welt, am Ende des Weges hörst du auf zu atmen. Wenn ich tot bin, ist die Reihe an dir.
Ich habe nicht verstanden, was er sagen wollte.
– Die Reihe?
– Nach mir bist du dann dran mit Sterben. Du musst nach vorne.
Ich war gerührt, habe aber versucht, mir nichts anmerken zu lassen.
– Und Kamber?
– Aus dem wird nichts Gescheites mehr.
– Aber …
Er hat die Hand auf meine Schulter gelegt und den Kopf geschüttelt. Ich sollte still sein.
– Kamber, fing ich trotzdem noch mal an.
– Ich will den Namen nicht mehr hören.
In die Rührung mischte sich der Schmerz, meine Augen wurden feucht und ich sah weg. Ich wusste nicht, ob ich jetzt einfach aufstehen konnte oder nicht, und so saßen wir schweigend nebeneinander.
– Die Reihe ist an dir, sagte er nach einer Weile, bald stehst du an vorderster Front. Und du wirst gefickt werden, auf die eine oder andere Art wirst du gefickt werden. Es gibt kein Entkommen.
Er sah mich an, ich wusste nicht genau, was er mir sagen wollte, aber ich verstand, dass er auf irgendeine Art an mich glaubte.
– Jeder Mensch weint, murmelte er. Und jeder Mensch stirbt. Drei Monate später war er tot. Er wurde in der Türkei beerdigt und ich bin nicht hingeflogen. Kamber auch nicht.
Ich dachte an dieses Gespräch und wie nah wir uns gewesen waren. Es musste eine Möglichkeit geben, Lesane und mich zu verbinden.
– Was ist das mit Sami und dir?, fragte ich ihn.
– Was soll da sein?
– Ayleen sagt, ihr prügelt euch fast.
– Ja.
– Warum?
– Weil er einfach nicht peilt, dass er kurz davor ist, eine Schelle zu kassieren. Der hat mir gar nichts zu sagen. Ich bin kein Kind mehr.
– Ayleen muss verdammt verzweifelt sein, wenn sie glaubt, es könnte etwas nützen, dass wir uns treffen. Wir kennen uns nicht. Sie möchte dir irgendwie helfen. Und sie vertraut dir. Sie vertraut dir, dass du nicht zu Sami gehst und ihm die Wahrheit sagst. Egal, was sonst auch immer passiert. Das heißt, sie glaubt, du bist ein Ehrenmann, der nie seine Mutter verraten würde. Vielleicht möchte sie, dass du ein wenig Abstand gewinnst.
Abstand halten. Wie lange hatte ich das versucht?
– Was soll das bringen, wenn er es nicht auch versucht?
Ich sah ihn an und blieb ihm eine Antwort schuldig. Ich suchte nach dem Satz, dem Satz, in dem er sich selbst sehen konnte.
– Bist du sauer auf Ayleen?
– Warum?
– Weil sie dir erst jetzt die Wahrheit gesagt hat?
– Das sind alles Lügen, jeder lügt dich an, sagte er.
Er hatte es nicht gerappt, aber ich erkannte den Tonfall.
– Azad, sagte ich.
Da war immerhin ein Moment der Überraschung in seinen Augen.
Hip-Hop. Er musste acht gewesen sein, als das Album erschien. Mit Hip-Hop hat es angefangen, in der Nacht, in der wir diesen Jungen gezeugt haben. Diese Nacht. Ayleen hat mir erzählt, wie sich ihre Eltern getrennt haben, als sie sechs war. Wie sie ihren Vater vermisst hat. Wie ihre Mutter einen neuen Mann gefunden hat, der zu ihnen zog, und wie sie dann immer wieder zu Ayleen gesagt hat: Wenn das mit dem Thorsten auch nicht klappt, ist das deine Schuld. Wie sie Thorsten gehasst hat und wie schuldig sie sich deswegen gefühlt hat.
Die Nacht, in der Lesane empfangen wurde, Hip-Hop, Gras, Pep, Wodka, Bedauern, Sehnsucht, Geständnis, falsche Nostalgie, Geilheit.
– Was hörst du sonst so?, fragte ich.
– Haftbefehl, Xatar, SSIO, PA Sports, KMG, die frühen Sachen von Sido, Nazar, Nimo, Vega.
Ich nickte.
– Rappst du?
Er schüttelte den Kopf.
– Du tickst, sagte ich.
Er verzog keine Miene. Ich hätte nicht sagen können, ob irgendetwas in ihm arbeitete. Ich wusste nur, dass ich richtig lag. Ich wusste aber nicht, ob das der Grund für seine Probleme mit Sami war. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte, was für ein Mensch mein Sohn war. Welche meiner Eigenschaften er hatte und welche nicht. Ob er verloren war und wenn ja, auf welche Weise. Und was das für mich bedeutete.
2
Mitte vierzig, Carhartt-Jeans, teures Hemd, Veja-Turnschuhe, leicht angegrautes, schütter werdendes Haar, gepflegter 14-Tage-Bart. Die Augenringe und die eingefallenen Schultern verbargen nicht, dass er es gewohnt war, sich mit jedem Mann im Raum zu messen und sich für den Gewinner zu halten.
Solche Männer hatte ich als Personal Trainer nicht motivieren müssen, die brauchten mich nur, damit da jemand war,