Der die Träume hört. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542032
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Er wohnt gerade bei mir, rutschte es mir heraus.

      – Er …

      Mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte nicht lügen.

      – Er hat Sami eine Kopfnuss gegeben. Ist vielleicht gut, wenn alle ein wenig Abstand haben.

      Ich wusste, woran es sie erinnert hätte, wenn ich ihr die ganze Wahrheit erzählt hätte. Ich wollte nicht. Und ich glaube, wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätte sie es auch nicht gewollt.

      – Ist er ein dummer Junge?, fragte sie.

      – Ich fürchte schon.

      Sie schüttelte leicht den Kopf und lächelte. Macht nichts, sollte das heißen. Sie lächelte voller Wärme.

      – Wir haben schon ganz andere Berge erklommen, sagte sie. Ich schämte mich, dass ich nicht zu so einem Lächeln fähig war.

      Später, nachdem ich ihr wieder und wieder versprochen hatte, ihn nächstes Mal mitzubringen, schloss sie die Wohnungstür hinter mir und ich setzte mich im zweiten Stock einfach auf die Stufen.

      Ich wollte nicht raus.

      1993, The World Is Yours, Scarface

      Es fängt mit Unruhe und Aufregung an, er muss kacken und geht ins Gebüsch. Als er wiederkommt, behaupten die anderen, sie spürten nichts. Kamber schlägt vor nachzuwerfen, obwohl nicht viel mehr als eine halbe Stunde vergangen sein kann. Sie haben nicht genug zweite Teile für jeden, also bekommt jeder noch ein halbes. Es sind kleine weiße runde Pillen, auf der einen Seite ist der Diesel-Indianer, auf der anderen eine Bruchrille.

      Sein Brustkorb scheint sich zu weiten, er atmet tief ein, überrascht davon, wie viel Luft in ihn hineinpasst und wie gut sie sich anfühlt. Es ist, als würde eine nie gekannte Energie ihn durchfluten, eine Energie, die ihm aber dennoch vertraut vorkommt. Das ist eine Viertelstunde nach der nachgeschmissenen halben Pille.

      Kurz darauf ist er überfordert. Als würde ein Orkan ihm die Füße vom Boden reißen und ihn mitnehmen. Er bekommt mit, dass Kamber sagt, er spüre immer noch nichts, dann scheint das Bild vor seinen Augen zu wackeln, er weiß nicht wohin mit der Energie, er ist ganz bewegungslos. Er weiß nicht wohin mit sich. Das ist nicht die Paranoia, die manchmal beim Kiffen kommt, es ist etwas ganz anderes. Als würden alle Knoten in ihm einfach aufgelöst werden.

      Er hört, wie Kamber auf eine Frage antwortet: Wieso? So fühle ich mich immer.

      Das Nächste, woran er sich hinterher klar erinnert, ist, dass sie zu dritt auf der Bank am Spielplatz sitzen und Kamber vor ihnen auf und ab geht, während er selber redet. Als hätten sich die Worte jahrelang in ihm aufgestaut. Als würden sie jetzt alle wie von selbst in der richtigen Reihenfolge aus seinem Mund sprudeln.

      Wie froh er ist, einen Bruder wie Kamber zu haben, eine Mutter wie Sevgi. Wie traurig er manchmal ist, weil er Sevgi so viel Kummer bereitet. Wie oft er sich wünscht, wie Kamber zu sein. Mutig. Unerschrocken. Draufgängerisch. Klug. Gewitzt. Wie sich diese Sehnsucht nach Freiheit anfühlt. Eine blaue Sehnsucht, sagt er, blau wie der Himmel, blau wie das Meer. Er sieht die anderen an und sie nicken. Klar, blaue Sehnsucht, sie verstehen ihn genau. Er erzählt von dieser Angst, die ihn nie ganz loslässt, die Angst, dass alle einfach gehen könnten, dass Kamber auf einmal weg ist, dass Sevgi auf einmal weg ist, dass er allein ist.

      Kamber geht immer noch auf und ab, manchmal hebt er einfach die Arme zum Himmel und schaut hoch. Er sagt, wie eifersüchtig er manchmal auf Nizar ist, obwohl er ihn liebt. Liebt, sagt er, er liebt Nizar und Nizar spürt dieses Wort in seinem ganzen Brustkorb.

      Kamber erzählt, wie er das Gefühl hat, Mutter und Vater würden sich wünschen, er wäre jemand anderes. Jemand, der weniger Scheiße baut. Jemand, der ruhiger ist. Wie er manchmal einfach nur Scheiße baut, weil er ihre Aufmerksamkeit haben möchte. Wie sie ihn aber nie sehen, egal, wie sie gucken, sie sehen ihn einfach nicht. Und wie er auch deswegen Scheiße baut, weil er es liebt. Weil es Freiheit bedeutet. Dass Freiheit keine Farbe hat, weil man sich einfach jede nehmen kann, die man möchte. Dass nur Regeln eine feste Farbe haben. Die drei auf der Bank nicken. Auch ihn verstehen sie.

      Wie froh er ist, solche Freunde wie die drei zu haben. Sie sollen doch aufstehen. Er will sie umarmen. Er gibt jedem einen Kuss auf die Stirn. Ohne euch wäre ich nichts, sagt er.

      Am nächsten Tag wird er sagen: Ich fand, die Pillen waren scheiße. Davon bekommt man nur so schwule Gefühle.

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