Hardcore von Herzen. Annie Sprinkle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annie Sprinkle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783960541653
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was das war). Es gab auch eine wunderschön gemachte Golden-Shower-Szene in dem Film, die später allerdings durch den Vertrieb zensiert wurde, um rechtliche Probleme zu vermeiden.« 12

      Wie einige feministische Wissenschaftlerinnen ausführten, spielt Annie in Deep Inside Annie Sprinkle absichtlich mit den Konventionen dessen, wer wem Vergnügen bereitet.13 Viel wurde darüber geschrieben, wie sie durch ihre Interaktionen mit Männern auf der Leinwand oder dem, was Chris Straayer als Wiedereinschreibung der Sodomie in die Heterosexualität bezeichnet hat, homosexuelle Pornografie einbindet. Aber der vielleicht radikalste Aspekt an Sprinkles Performance ist nach Linda Williams, daß sie die physische Nähe zwischen Hure und Kunde verwischt, indem sie »einen Kunden intim anspricht, der gar nicht mehr da ist … sie führt Elemente ein, die das Paradigma des aktiven Mannes und der passiven Frau, wie es in der konventionellen Pornografie herrscht, stören.« 14 Laut Thomas ist noch ein weiteres Element des filmischen Szenarios auffällig. Sprinkle macht sich über das abgeschlossene Phantasie-Setting kommerzieller Pornografie lustig: »Sobald Sprinkle den Betrachter images/nec-19-1.pnginimages/nec-19-2.png ihr Haus eingeladen hat, zeigt sie ihm ihr persönliches Fotoalbum, das Bilder von ihr als Kind und als junge Frau enthält. Anstatt ihren images/nec-19-3.pngKundenimages/nec-19-4.png in dem Glauben zu lassen, ihre glamouröse Huren-Persönlichkeit sei die echte, wahre Frau, unterstreichen die Fotos die Konstruiertheit ihrer Identität; während Annie die Geschichte erzählt, wie aus Ellen Steinberg Annie Sprinkle wurde, erinnert auch der von ihr gesprochene Text daran, daß es in Sprinkles Macht und nicht in der des (mutmaßlich männlichen) Publikums liegt, den Wandel vom braven Mädchen zur Hure herbeizuführen.« 15

      Deep Inside Annie Sprinkle, das zweitbest verkaufte Erwachsenenvideo 1982, etablierte Annie nicht nur als Pornostar, sondern markiert auch den Beginn einer Tradition der direkten Ansprache und interaktiven Ausdrucksweise, die die Grenzen zwischen Leben und Kunst absichtlich verschwimmen lassen. Aber der Film führte auch zu einer wichtigen persönlichen Veränderung. Sie sagt: »Ich hatte keine Lust mehr, die Phantasie anderer Leute zu sein.« 16 Sie zog Angebote für Varieté-Veranstaltungen in Betracht. Aber Annies Vorstellung von Varieté beinhaltete einen eigenwilligen Dreh, oder das, was auch als Avantgarde-Varieté bezeichnet wurde, nämlich die Parodie des Genres. Es ist kein Zufall, daß ihre erste Performance den Titel Strip Speak trug, eine Kombination aus anzüglichen rhetorischen Fragen und einem begleitenden Text, der ihr männliches Publikum verführen sollte, während sie gleichzeitig die Tradition des Voyeurismus auf die Schippe nahm.

      Von diesem Punkt an politisierte sich Annie mehr und mehr, »inszenierte« sich als Hure und zerstörte Vorstellungen von der Performanz der Prostitution. Das Szenario ihres nächsten Stücks, Deep Inside Porn Stars, kam vom Club 90, einer Porno-Star-Unterstützergruppe, die in Annies Salon angefangen und dann im Wechsel die Herkunftsorte der anderen Mitglieder besucht hatten. Im Januar 1984 trat eine feministische Performance-Gruppe, Carnival Knowledge, an Sprinkle und ihre Porno-Star-Schwestern Veronica Vera, Candida Royalle, Gloria Leonard, Veronica Hart, Sue Nero und Kelly Nichols heran und fragte sie, ob sie sich vorstellen könnten, bei einer Performance-Reihe mit dem Titel The Second Coming im Franklin Furnace mitzuwirken. Im Programm wurde das Ziel der Veranstaltungsreihe erklärt, das darin bestand, »eine neue Definition von Pornografie zu erproben, durch die weder Frauen noch Männer, noch Kinder erniedrigt werden« 17.

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      Annie Sprinkle am Ende der Szene mit den images/nec-20-1.png100 Blow Jobsimages/nec-20-2.png in »Post-Porn Modernist«. Foto: © Dona Ann McAdams

      Thomas beschreibt die Bedeutung dieser Performance sehr treffend: »Das Stück spielt in einem Nachbau von Annie Sprinkles Wohnzimmer und beleuchtet den Unterschied zwischen der Wahrnehmung von Frauen und ihrem images/nec-21-1.pngwahrenimages/nec-21-2.png Selbst. Während sich die Frauen images/nec-21-3.pngversammelnimages/nec-21-4.png, legen sie unauffällig ihre Porno-Kleidung ab und tauschen sie gegen Straßenkleidung ein. Wenn sie sich ausziehen, so unauffällig das geschehen mag, stellen sie (laut Bell) visuell eine Verbindung zum Varieté-Theater her und erinnern den Zuschauer daran, daß die meisten der Frauen als Stripperinnen in diesen Theatern gearbeitet haben und noch arbeiten. Sprinkle verstößt gegen diesen pornografischen Kontext, indem sie jeder Frau bei ihrem Eintreffen Tee und Kekse anbietet.« 18

      Im selben Jahr fragte Richard Schechner, der mit seiner Seminargruppe der New York University zum Thema illegales Theater zufällig in Annies Nurse Sprinkle’s Sex Education-Show geraten war, ob Annie ihre Schwester Sprinkle-Nummer aus dem Show World’s Triple Treat-Theater als Teil des Prometheus Project aufführen wolle. Er fand ihre Arbeit faszinierend, weil »Sprinkle den Zuschauer bei jeder Steigerung des sexuellen Angebots befragt und ihn auffordert zu beschreiben, was er sieht oder wie er sich fühlt. Dies schafft automatisch einen Abstand zwischen der Handlung und den eigenen sexuellen Möglichkeiten – wodurch Anti-Porno oder eine Porno-Parodie entsteht.« 19

      Die Zusage sowohl zu dem Engagement am Franklin Furnace wie auch zu Schechners Einladung, ihre Strip-Show im Rahmen einer »legalen« Off-Kunst-Szene zu präsentieren, ermöglichte Annie Sprinkle formal den Eintritt in die entstehende New Yorker Performance-Kunst-Szene.

      Als kommerzielle Sexarbeit weniger zwingend wurde, suchte Annie zunehmend geistigen Austausch und Ermutigung bei Künstlern. Annie lernte Linda Montano kennen, die sich als »Lifeist« bezeichnet und bereits bekannt war für ihre künstlerische Verarbeitung des Alltagslebens: sie hatte sich ein ganzes Jahr mit einem zwei Meter langen Seil an ihren Künstlerkollegen Techning Hsieh gebunden. 1988 besuchten Sprinkle und Veronica Vera Montanos Summer Saint Camp am Art/ Life Institute in Kingston, New York, wo Sprinkle, wie sie es stolz nennt, »zur Künstlerin getauft« wurde. Annie beschreibt ihre Begegnung mit Montano fast wie ein »religiöses Erlebnis«20. Ihre Freundschaft und Zusammenarbeit führte im Verlauf von vierzehn Jahren schließlich zu vielen Performances und Sex-Workshops unter dem Titel »Sacred Sex«, die über zehn Jahre lang am Wise Woman Center stattfanden. Annies experimentellere, metamorphosexuelle Dokudramen dieser Zeit spiegeln ihren Übergang von der Pornografie zur Kunst. Linda/Les & Annie – The First Female-to-Male Transsexual Love Story dokumentiert ihre Liebesaffäre mit Les Nichols, einem Frau-Mann-Transsexuellen und chirurgischen Hermaphroditen. Der Sluts and Goddesses Video Workshop, der als ein »Augen-Fick« angekündigt wurde, ist eine humorvolle Betrachtung weiblicher Sexualität und sinnlicher Freuden, den Annie nach eigenen Aussagen veranstaltet hat, um Zugang zur Lesbenszene zu bekommen. Heute betrachtet sich Annie als Aktivistin, als Lehrerin und Sexualheilerin und als trans-mediale Künstlerin. Ihre neueren Arbeiten sind mit ihren Worten »feministisch, spirituell, Gender übergreifend und homosexuell …« 21

      Postmodernes Popcorn

      Mit ihrer One-Woman-Show 1989, die auf eine Reihe von Sketchen zurückgeht, die sie seit 1981 im Umkreis von New York aufgeführt hatte, machte Annie den Begriff »Post-Porno« populär. In späteren Bearbeitungen wurde das Stück als Post-Post-Porn Modernist bekannt. Wie oft im Kabarett bildet jede Szene oder Nummer eine eigenständige Einheit, die in ihrer Abfolge aber Annies Lebensgeschichte von ihren Tagen als schüchterne Ellen Steinberg, über ihre frühen Jahre als Porno-Starlet, bis zu den Varieté-Aufführungen