Hardcore von Herzen. Annie Sprinkle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annie Sprinkle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783960541653
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des New Yorker Bürgermeisters Giuliani demonstrierten.

      Aber Annie ist in allererster Linie eine Geschichtenerzählerin und ihr Körper ist ihr Text. So wie sie die Geschichte erzählt, begann sie ihre Entwicklung von der schüchternen Ellen Steinberg zum Pornostar Annie Sprinkle im Alter von siebzehn Jahren. Ellen, die gerade ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, verließ ihre Familie im vorstädtischen Süd-Kalifornien und ergatterte einen Job im Plaza Cinema in Tucson, Arizona. Dort verkaufte sie während der Vorführungen eines der erfolgreichsten Pornofilme der 70er Jahre, Deep Throat von Gerard Damiano, für 4.75 Dollar die Stunde Popcorn – bis das Kino von der Polizei durchsucht und geschlossen wurde. Im Anschluß an ihren Job im Plaza bediente Ellen die Telefone des North Star, einem Wohnwagen mit drei Schlafzimmern, der ein »Ganzkörper«-Massage-Unternehmen beherbergte. Annie begriff bereits am ersten Nachmittag, welche Tätigkeiten sich in diesem Business am besten bezahlt machten. Ellen aber verstand erst sehr viel später, welche gesellschaftlichen Sanktionen mit ihrer lukrativen und vergnüglichen Arbeit einhergingen. Annie formuliert es folgendermaßen: »Ich hatte bereits gute zwei Monate als Prostituierte gearbeitet, bevor mir das klar wurde! Als es mir endlich aufging … gefiel mir die Vorstellung. Es war ganz und gar nicht der Alptraum, den man im Fernsehen oder in den Filmen zu sehen bekommt.« 6

      An anderer Stelle greift sie die prüden Vorstellungen von Prostitution an. Sheila Marie Thomas erklärt: »Sprinkle gelangte auf indirektem Wege zur Prostitution und unterlief so deren Macht. Anstatt bewußt für Geld Sex mit Fremden zu haben, hatte sie zum Spaß Sex mit ihnen. Als ihr klar wurde, daß ihre Handlungen sie in den Augen der Gesellschaft zur Hure machten, entschied sie sich, diese Rolle aktiv zu übernehmen. Im Moment der Erkenntnis behauptete sie diese Rolle als eigene Identität und sagt, ihr images/nec-14-1.pnggefiel die Vorstellungimages/nec-14-2.png, sich selbst als Nutte zu bezeichnen.« 7

      Ihre Identität als Hure begann mit einer Performance. Linda Williams erläutert, daß es sich bei Sprinkles Prostitution auch um eine Form der Handlungsermächtigung handelt: »In diesem ersten Fall einer sexuellen Leistung, durch die (Sprinkle) zunächst nicht und dann doch als Hure bezeichnet wurde, liegt die Entdeckung einer handelnden Subjektivität, die dem sie konstruierenden Diskurs nicht entgegengesetzt, sondern in ihm verwurzelt ist. Ihre Ermächtigung als handelndes Subjekt besteht sozusagen darin, daß ihr durch die Wiederholung der sexuellen Leistung, zunächst umsonst, dann für Geld, klar wird, daß der Begriff images/nec-14-3.pngHureimages/nec-14-4.png die Person, die sie ist, nicht vollständig beschreibt. Annie Sprinkle leugnet weder, daß sie eine Hure ist, noch bekämpft sie das System, das sie so nennt.« 8

      Aber Marla Carlson behauptet völlig zu Recht, daß Williams »Sprinkles rhetorische Konstruktion ihrer eigenen Lebensgeschichte nicht ausreichend berücksichtigt. (Williams) behandelt die Geschichte als Darstellung von Sprinkles Erfahrung. Als Darstellung klingt sie nicht glaubhaft. Als Performance jedoch bewirkt sie eine Transformation.« 9

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      Annie bei einem ihrer zahlreichen Auftritte als images/nec-15-1.pngSchwester Sprinkleimages/nec-15-2.png – hier bei einer Benefizveranstaltung für den Performance Space 122 in New York. Foto: © Dona Ann McAdams

      Wie Genet, der sich laut Sartre der bürgerlichen Moral entzog, indem er den Status des Dieb/Homosexuellen und Heiligen auslebte – und so seine eigene Kriminalität umkehrte, indem er sie »in Besitz« nahm –, war auch Annies Hurentum eingefärbt von einer psychedelischen Form der politischen Communitas, dem zivilen Ungehorsam einer Gegenkultur zur Hochzeit der sexuellen Revolution in den 70er Jahren. Die Geschichte ihrer Ankunft in New York sechs Monate nach der erzwungenen Absetzung von Deep Throat ist so bizarr wie der Film selbst. Annie wurde als Zeugin bei Gericht vorgeladen, wo man sie aufforderte, ihre Arbeitgeber zu identifizieren. Während der Verhandlung lernte sie Damiano und Linda Lovelace kennen, die Filmheldin, deren Klitoris sich magischerweise in ihrer Kehle befindet. Sprinkle erinnert sich, Damiano gebeten zu haben, ihr die »deep throat«-Technik beizubringen und sie folgte ihm nach Manhattan. In ihrer Lehrzeit lernte sie allerdings mehr als nur jemandem perfekt einen zu blasen.

      In New York wurde Sprinkle Lehrmädchen in den Kirt Studios, einer Low-Budget-Hardcore-Spielfilmfabrik. Obwohl sie das Angebot, in Leonard Kirtmans Filmen mitzuspielen, zunächst ablehnte, weil sie, wie sie sagt, »dachte, daß ich eines Tages vielleicht Kunstlehrerin werden wollte« 10, war sie es schließlich doch bald leid, hinter der Kamera zu arbeiten. Mitte der 70er Jahre spielte sie Hauptrollen in über hundert Pornofilmen mit solch plastischen und inzwischen auch kitschig klingenden Titeln wie Teenage Masseuse, Centerfold Fever, Wet Christmas, Slippery When Wet, Teenage Deviate, Kneel before Me und The Devil Inside Her. Außerdem arbeitete sie als Pin-up-Model für Stag, Cheri, High Society, Chic und Hustler, sowie für weniger bekannte Publikationen wie Foot Fetish Times, Enema News und Sluts and Slobs. 1978 kam es zu einer entscheidenden Wende, als sie Willem de Ridder kennenlernte, der neben Künstlern wie Shigeko Kubota, George Maciunas und Yoshiko Chumo zu einem wichtigen Vorbild wurde. Nachdem sie zusammen an einer alternativen Sexzeitschrift mit dem knappen Titel Love gearbeitet hatten, setzten sie sich für anderthalb Jahre nach Italien ab. De Ridder, dem sie ihre Autobiografie widmet, hatte ungeheuren Einfluß auf Annies Entwicklung als bildende Künstlerin, Fotografin und Konzeptkünstlerin: mit anderen Worten, auf ihren Übergang von Porno zu »Post-Porno«, vom »Objekt« zum »Subjekt«. Annie und de Ridder gaben The Sprinkle Report, The Newsletter Devoted to Piss Art heraus, der passenderweise bei R. Mutt Press erschien. Aber Sprinkles Heimindustrie, das Sprinkle Salon Mailorder-Unternehmen »Golden Shower Ritual Kits« – kleine Urinflaschen –, nahm starke Anleihen bei George Maciunas humorvoller Parodie des Risikokapitalismus im Porno- und Fetischgeschäft und seinem Fluxus-Konzept des Mail-Order Warehouse. In ähnlicher Weise bezogen sich auch Arbeiten wie Sprinkles Post-Porn Modernist-Show in den 80er Jahren auf Fluxus-Künstler, die sich bereits mit Ethnie und Sex beschäftigt hatten und deren Arbeiten starke proto-feministische Einflüsse erkennen ließen. Sprinkles berühmt berüchtigtes »Public Cervix Announcement« steht in direktem Zusammenhang sowohl zu Yoko Onos Performance Cut Piece von 1964, »bei der (Ono) bewegungslos auf der Bühne sitzen blieb, nachdem sie das Publikum aufgefordert hatte, auf die Bühne zu kommen und ihr die Kleider vom Leib zu schneiden …« 11, wie auch zu Shigeko Kubotas Vagina Painting-Performance von 1965, bei der sie mit einem Pinsel, den sie sich in die Vagina einführte, Farbe auf Papier auftrug. Nach ihrem Abschluß in bildender Kunst an der School of Visual Arts in Manhattan arbeitete Annie mit Veronica Vera in der High-Heel School of Journalism als Fotografin für einen Großteil der Zeitschriften, für die sie zuvor posiert hatte, außerdem aber auch für Mainstream-Publikationen wie Newsweek, für die sie die Sex-Szene der 80er Jahre dokumentierte.

      1981 stellte einen weiteren Wendepunkt in Annies Werdegang dar. In diesem Jahr schrieb sie das Drehbuch und führte Regie bei ihrem eigenen Spielfilm, Deep Inside Annie Sprinkle, der im World-Theater in New York Premiere hatte. Bei einer späteren Vorführung in einem riesigen Autokino in Akron, Ohio, präsentierte Annie die Veranstaltung mit dem für sie typischen Elan und forderte die 900 Autos der Zuschauer über Lautsprecher auf, zu hupen und mit den Scheinwerfern zu blinken.

      Deep Inside ist eine subversive Verkehrung der Hardcore-Norm, die Frauen stets als gefügig und passiv darstellt. Annie erinnert sich: »Mein Konzept bestand darin, den Film interaktiv zu gestalten. Ich bezog den Zuschauer ein, indem ich direkt in die Kamera sprach. Meine Lieblingsszene ist die, in der ich in ein Kino gehe, wo einer meiner Pornofilme gezeigt wird, und ich Sex mit mehreren der Pornofans habe, die mich auf der Leinwand beobachten. Es gab auch eine sehr intensive Masturbationsszene,