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Sie saßen wie vom Donner gerührt, Ingeborg und Bertold Basler, und sie sahen sich mit verstörten Mienen an. Zwischen ihnen lag das Schreiben von einem Notar, fremd und unbegreiflich vom Inhalt her, so oft sie es auch lasen und darauf starrten.
»Du hast nie etwas von dieser Verwandten gewußt«, brachte Ingeborg nach einem kurzen Schweigen tonlos hervor.
»Sag ich doch.« Berthold mußte sich schon wieder schneuzen. Seine Nase war gerötet, sein Augen blickten trüb. Er hatte eine fiebrige Erkältung, deshalb war er heute nicht ins Geschäft gegangen. Ein Virus hatte in diesem unfreundlichen Spätherbst viele Menschen befallen.
»Meinen Großvater habe ich kaum gekannt«, fuhr er fort, nachdem er sich noch heftig geräuspert hatte, »und von einer Schwester von ihm ist nie die Rede gewesen. Woher denn auch. Unsere Familie war nur klein, und außer mir ist niemand mehr da.«
»Nur sie ist über hundert geworden«, sagte Ingeborg, und sie sah wieder auf das weiße beschriebene Blatt. »Lucie Steven«, langsam sprach sie den fremden Namen aus, der nun plötzlich eine so ungeheure Bedeutung für sie erlangt hatte. »Geborene Basler… Wie sie wohl nach Amerika gekommen sein mag?«
Bertold schwieg darauf. Wie sollte er das wissen. Seine Frau erwartete auch gar keine Antwort.
»Erbenermittler«, murmelte sie vor sich hin, denn so stand es da. »Hast du gewußt, daß es so etwas gibt?«
Bertold machte eine ungewisse Handbewegung. »Das ist jemand, der in Standesämtern und Kirchenbüchern nach Angehörigen forscht, wenn keine Nachkommen da sind und kein Testament existiert.«
»Und da ist man auf dich gestoßen.« Ingeborg schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht fassen, Bertold.«
»Ich auch nicht«, sagte er dumpf. Ihm dröhnte der Kopf, und das kam nicht von dem Infekt.
»Sie haben lange gebraucht, dich aufzuspüren«, redete Ingeborg weiter, »wenn sie doch schon vor einem dreiviertel Jahr in einem Altersheim in Heidelberg gestorben ist. Seltsam auch das. Es muß sie zuletzt doch wieder in die alte Heimat zurückgezogen haben.«
Berthold hatte einen Hustenanfall. Da stand sie auf, um ihm einen Hustentee zu bereiten, in den sie ihm seine Medizin gab.
»Willst du dich nicht lieber wieder hinlegen, Bettwärme ist jetzt das Beste für dich«, riet sie ihm.
Da klingelte es Sturm. War das Uli schon? Die Schule konnte doch eigentlich noch nicht aus sein.
»Die letzte Stunde ist ausgefallen«, berichtete der Sohn. »Hätte ich das gewußt, hätt ich gestern abend nicht mehr dafür gebüffelt.« Er sah von einem zum anderen, und er stutzte. »Ist es schlimmer mit dir geworden, Papa? Warum bist du dann nicht im Bett geblieben? Ihr seht beide so – so mitgenommen aus.«
»Dein Vater hat geerbt, Uli«, sagte Ingeborg.
Verständnislos sah der Junge seine Mutter an. »Wie – geerbt?«
»Von einer Großtante, die in Florida ein Riesenvermögen hinterlassen hat.«
»Pff«, machte Uli, »ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen.«
»Du kannst es lesen.« Mit dem Kinn deutete Ingeborg auf das notarielle Schreiben auf dem Tisch.
Uli griff danach. Seine Augen wurden immer größer, während er las.
»Das gibt’s doch nicht«, stammelte er. »Eins komma fünf Millionen Dollar, und eine Villa in Florida – so was gibt’s doch nicht wirklich.«
»Anscheinend doch. Aber so richtig begreifen können wir es auch noch nicht. – Trink deinen Tee, bevor er kalt wird, Bertold.«
Uli las nochmals, seine Lippen bewegten sich sogar dabei.
»Aber wie es da steht«, er schien jedes Wort von tief innen her zu holen, »muß das doch stimmen. Da steht doch BERTOLD BASLER. Und da oben der Briefkopf, Rechtsanwalt und Notar. Dann kann das ja nicht nur ein irrer Witz sein. O Mann! Wir sind reiche Leute. Milli – o – näre!« Er ließ das auf der Zunge zerschmelzen. Plötzlich warf er die Arme in die Luft, sein Gesicht verklärte sich.
»Jetzt können wir auf einen Lottogewinn pfeifen! Da haben wir doch immer drauf gehofft, und uns geärgert, wenn wir wieder keine Zahl richtig hatten. Mama, Papa, wieso freut ihr euch eigentlich nicht? Ihr seht aus, als hätte man euch mit ’nem Hammer über den Kopf gehauen –«
»Bitte, Uli, ja«, sagte sein Vater.
»Ist doch wahr.« Der Junge ließ sich nicht beirren. Er fuchtelte mit den Armen herum. »Stell dir nur vor, du brauchst nie mehr in das dusselige Geschäft zu gehen, und du, Mama, brauchst keinen Zahnstein mehr zu entfernen. Du wirst nur noch teure Klamotten tragen, und wir werden in einer Luxusvilla in Florida leben. O Mann!« wiederholte er und schnaufte auf.
»Soweit sind wir noch nicht«, sagte seine Mutter. Sie stand auf. »Jetzt will ich erst mal sehen, daß ich was zum Mittagessen auf den Tisch bringe, sonst kommt uns der Papa noch ganz von Kräften.«
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Als Berthold wieder gesund war, fuhr er zu dem Notar Vandenbrinck, mit dem er schon eine telefonische Unterredung gehabt hatte. Dort wurde er über alle Formalitäten informiert, und er unterschrieb, daß er die Erbschaft annahm. Seine Hand war nicht ganz ruhig dabei.
Zurückgekehrt, kündigte er seine Stellung. Der Geschäftsinhaber hatte sowieso vorgehabt, Personal zu reduzieren, denn der Umsatz war, wie vielerorts in der Wirtschaftswelt, zurückgegangen. Seinen langjährigen Mitarbeiter jedoch hätte es nicht getroffen. Deshalb konnte er es nicht unterlassen nach dem Warum zu fragen.
Wohl oder übel gab Bertold Basler ihm den Grund für seinen Entschluß an, den ganzen Umfang der Erbschaft verschwieg er allerdings.
Der Chef lächelte etwas säuerlich. »Da haben Sie ja Schwein gehabt. Eine reiche Erbschaft könnte jeder gut brauchen.« Und es blieb die Floskel nicht aus, daß er ihm das Beste für die Zukunft wünschte.
Es war Mitte Dezember, als Ingeborg endlich zum Telefon griff, um ihre Freundin Beate anzurufen.
»Hallo«, sagte Beate, »fein, daß du dich mal wieder meldest. Wir haben lange nichts voneinander gehört. Du bist sicher auch sehr beschäftigt, und jetzt kommen die Weihnachtsvorbereitungen noch dazu.«
»Ach, bei uns hat sich soviel getan, Beate, daß es mir vorkommt, als sei unser Leben von einem Wirbelsturm erfaßt worden!«
»Nanu, wie soll ich das denn verstehen«, wunderte sich Beate. »Was ist denn passiert?«
Ingeborg erzählte es ihr in einigen Sätzen. Danach trat ein kurzes Schweigen ein.
»Ich mußte erst einmal tief Luft holen«, sagte Beate dann. »Das ist ja nicht zu fassen.«
»Bei uns hat das auch eine Weile gedauert«, versicherte Ingeborg. »Wir waren tagelang wie betäubt. Nur unser Uli hat sich schnell mit der neuen Situation abgefunden. Er sieht sich schon auf einem teuren College in Amerika, schleppt Bücher an, um alles darüber zu wissen.«
»Sag nur, daß ihr dorthin ziehen wollt«, stieß Beate hervor.
»Nein, soweit denken wir gar nicht. Im Januar will Bertold erst mal hinfliegen und sich das Haus ansehen.«
»Wenn man sich das vorstellt«, sagte Beate langsam, »dein ruhiger Bertold und plötzlich vor solche Aufgaben gestellt… Willst du nicht mitfliegen? Du wirst doch auch deine Arbeitsstelle aufgeben.«
»Nicht sogleich. Ich warte erst mal ab. Ich mag Dr. Harmsen nicht so plötzlich im Stich lassen. Er ist ein guter Chef, und daß er mich damals, als ich von Fendrich wegging, vor anderen Bewerberinnen genommen hat, danke ich ihm noch heute. Außerdem hat Uli Schule. Wir könnten gar nicht so ohne weiteres