Ach, sie waren ja in Hamburg!
Ein großes Glücksgefühl sprengte ihm plötzlich das Herz. Er warf die Decke zurück, lief ans Fenster und schob den Vorhang beiseite. Da war der Himmel hell von den Lichtern dieser großen Stadt, die für ihn voller Wunder war. Er wußte, daß dahinten die Alsterbrücken waren. Tagsüber flogen die Möwen in Scharen hinter den ausreisenden Schiffen her, und im Hafen wehten Flaggen aus aller Welt in dem Wind, der nach Salz und Meer schmeckte.
Felix konnte es kaum allein ertragen, dies alles zu wissen. Er wandte sich vom Fenster ab, zog dem schlafenden Pipsi die Decke über dem Käfig zurecht, dann ging er nach nebenan ins Schlafzimmer seiner Eltern. Er stieg über seinen Vater hinweg und kuschelte sich zwischen ihn und seine Mama.
Sie wurde wach, und auch sein Vater bewegte sich.
»Felix – was ist denn, schläfst du nicht?«
»Es ist nichts«, wisperte er. »Ich bin nur so glücklich.«
Sie rückten nahe zueinander, und mit einem Lächeln auf den Lippen schliefen sie wieder ein.
Gibt es eine Rettung für Silvie?
»Sandra hat geschrieben, Mutti!«
Felix wedelte mit der Karte, die er aus dem Briefkasten geholt hatte. Sie war sehr bunt und zeigte Palmen und weiße Häuser am blauen Meer.
»So, was schreibt sie denn?« fragte Beate.
»Lieber Felix«, las ihr Elfjähriger mit Betonung vor, »ich sende dir viele Grüße aus Südfrankreich. Daniel kann schon schwimmen. Wir haben viel Spaß. Deine Sandra.«
Beate lächelte. »Siehst du, sie denkt doch immer an dich.«
»Ich ja auch an sie«, behauptete Felix.
»Aber du bist schreibfaul«, hielt seine Mutter ihm vor. »Du könntest ihr ruhig auch mal wieder einen Gruß senden.«
»Och, ich telefoniere lieber. Guck mal, was für eine saubere Schrift sie hat. Dafür kriegt sie von unserem Leuchtturm bestimmt ’ne Eins.«
Der »Leuchtturm« war der Klassenlehrer, der seinen Spitznamen seiner Länge von fast zwei Metern verdankte.
Beate warf einen Blick auf die Mädchenhandschrift. Sie nickte. »Da kommst du freilich nicht mit«, bemerkte sie.
Ein Lausbubenlächeln ging über das runde Gesicht ihres Sohnes.
»Papa sagt immer, ich hätt’ ’ne Klaue!«
»Womit er nicht ganz unrecht hat«, sagte seine Mutter.
»Siehste, dann kann Sandra das vielleicht gar nicht lesen, was ich ihr schreibe«, folgerte der Junge.
Beate tupfte ihm auf die sommersprossige Nasenspitze. »Um eine Ausrede bist du nie verlegen, du Schlingel.«
»Aber im Anfang«, redete Felix weiter, »da hab’ ich Sandra doch viele Ansichtskarten geschickt, damit sie auch sieht, was für eine tolle Stadt Hamburg ist. Und das Foto, das sie mir mal geschickt hat, hab’ ich sogar in einen Rahmen gesteckt.« Er blickte zu seiner Mutter auf. »Ob sie immer noch so hübsch aussieht, wo sie doch jetzt schon zehn ist?«
»Warum sollte sie das nicht«, lachte Beate amüsiert.
»Also«, Felix reckte sich in den Schultern, »dann pinn’ ich die Karte mal an die Wand.« Damit flitzte er in sein Zimmer.
Beate fuhr in ihrer Bügelarbeit fort. Sie lächelte leise in sich hinein. Es war rührend, daß diese Kinderfreundschaft die Jahre überdauerte! Dabei waren sie doch so verschieden gewesen, die kleine, zarte Sandra Fabricius und ihr kräftiger Bub Felix. Und wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Beate rechnete nach. Ja, das waren mehr als fünf Jahre.
Mein Gott, wie doch die Zeit verging!
Sie waren seinerzeit Nachbarn gewesen, der Chirurg Dr. Clemens Fabricius mit seiner schönen Frau Bianca, die eine berühmte Pianistin war, und eben diesem Töchterchen Sandra. Freilich war es ein großer Unterschied zwischen der Villa Fabricius und ihrer, Beate Herders, bescheidener Dachwohnung in einem neuerbauten Mietshaus zwei Straßen weiter, wo sie den Lebensunterhalt für sich und ihren Felix mit dem Übersetzen von Büchern verdiente. Doch die Kinder hatten sich zusammengefunden auf dem Spielplatz im großen Garten, der die Villa umgab.
Sie war oft einsam gewesen, die kleine Sandra, deren Mutter mehr auf Konzerttournéen war als zu Hause. Beneidet hatte sie den Nachbarsjungen, der seine Mama ganz für sich hatte. Sie hatte nur Frau Scholl, die das Haus tadellos in Ordnung hielt und dafür sorgte, daß es dem Kind an nichts fehlte. Nur der liebeshungrigen Seele des kleinen Mädchens konnte sie kaum Genüge tun.
Sandra hatte einen Vater, der ihr all seine Liebe gab. Doch ihn nahm sein Beruf sehr in Anspruch. Allzuviel Zeit blieb da nicht.
Auch Clemens Fabricius war im Grunde einsam gewesen…
Beate setzte ihr Bügeleisen ab, sah mit einem verlorenen Blick zum Fenster hin.
Sie hatte ihn gemocht, den hochgewachsenen Mann mit dem ernsten, markanten Gesicht. Durch die Kinder hatten sie sich kennengelernt und auch hin und wieder eine Stunde zusammen verbracht. Zwei Menschen, die abends, wenn ihre Kinder schliefen, zumeist allein waren.
Bianca Fabricius feierte irgendwo ihre Triumphe, und sie – ach, sie hatte Nils Eckert längst aus ihrem Leben gestrichen, auch wenn Felix sie mit seinen Augen ansah.
Fabricius war nach ihm der erste Mann gewesen, der es vermocht hatte, etwas in ihr zum Klingen zu bringen. Sie hatten gute Gespräche miteinander geführt. Er interessierte sich für ihre Arbeit, die Bücher, und nicht nur dafür. Wenn er sich entspannte, sie sinnend mit seinem ruhigen Blick betrachtete, ihre Blicke ineinander versanken, dann konnte es geschehen, daß sie sich plötzlich sehr nahe waren.
Aber es konnte und es durfte nicht mehr zwischen ihnen sein. Er war verheiratet, liebte seine Frau, auch wenn sie ihm nur zu einem kleinen Teil gehörte, weil ihr Leben der Musik geweiht war.
Es kam dann auch bald die große Wende in ihrer beider Leben.
Wie ein Film zog das an Beates geistigem Auge vorüber, während sie ihre Arbeit nun wieder aufnahm.
Nils war plötzlich wieder da, der blonde Seemann, den sie einst so sehr geliebt hatte. Damals hatte er ihr versprochen, wiederzukommen, und sie, die junge Beate, hatte ihm vertraut. Aber das abenteuerliche Leben auf fernen Weltmeeren hatte ihn gefesselt. Allein mußte sie das Kind zur Welt bringen, von dessen Existenz er nichts ahnte.
Dann sah er ihn, der sein Ebenbild war und dessen Herz ihm zuflog. Welcher Junge wäre nicht stolz gewesen auf seinen Vater, und welcher Vater nicht auf diesen prächtigen Jungen.
Nils, wie es so seine Art war, dünkte es einfach, ihre Liebe wiederzugewinnen. Aber einfach war es nicht gewesen. Da war noch eine Sperre in ihr. Sie konnte ihm nicht an die Brust sinken, der sie enttäuscht und verlassen hatte. Sie widerstand zunächst diesem Werben, seinen Versprechungen, fortan an Land zu bleiben und seßhaft zu werden.
Doch ein Funke mußte doch noch unter der Asche geglommen sein, der sich eines Tages unter seinen Küssen wieder zur Flamme entzündete. Sein Mund wurde ihr erneut vertraut, seine Zärtlichkeiten. War es nicht wieder wie früher, als es nichts anderes für sie gegeben hatte als Nils und nochmals Nils – nichts vorher und nichts nachher?
Ja, die Liebe war wieder erwacht. Wie auf Flügeln ging es nun in eine gemeinsame Zukunft hinein. Was Nils auch anpackte, gelang ihm: Er fand eine gute Anstellung bei einer Schiffahrtsgesellschaft in Hamburg, wo sie seither lebten. Eine glückliche kleine Familie namens Eckert.