»Das war der Felix aus Hamburg«, berichtete Sandra eifrig. »Dem hatte ich doch eine Karte geschrieben, von Frankreich, und dafür wollte er sich endlich bedanken.«
»Den kenn ich nicht«, stellte Daniel fest.
»Nein«, lachte Sandra, »da warst du erst unterwegs, wie der noch hier war.« Sie setzte sich wieder hin, und nachdenklich redete sie weiter: »Ich würd’ ihn vielleicht auch nicht mehr kennen, wenn ich ihn plötzlich sehen würde… Und er mich nicht, weil wir doch noch klein waren, damals.«
»Er wird wohl noch dasselbe blonde Haar haben wie ein Igel und ein paar Sommersprossen auf seiner Nase«, scherzte ihr Vater.
»Dann war er aber nicht hübsch, wenn er Haare wie ein Igel hatte und Sommersprossen«, befand Daniel kritisch.
»Als ob es darauf ankäme«, verwies ihn seine große Schwester. »Felix war einfach super. Er war wild, so ein richtiger Junge – wie der immer über den Gartenzaun sprang, als wär’ das nichts! Und doch«, ihr Blick ging nach innen, »war er auch ganz lieb.«
»Kannst ja zu ihm gehen«, sagte Daniel, dem es nicht gefiel, daß Sandra von irgendeinem fremden Jungen so redete.
»Wer ist denn hier eifersüchtig«, schmunzelte sein Vater. Das Söhnchen war verwöhnt, es wollte seine Schwester ganz für sich haben. Sandra war daran nicht ganz unschuldig, denn sie hatte den kleinen Bruder stets mit überschwenglicher Liebe umgeben.
»Ist wahr«, murmelte Daniel, wischte sich den Mund mit der Serviette ab, denn er war jetzt fertig.
Sandra aß schnell den Rest von ihrem Teller. Dann holte sie Atem.
»Aber das Wichtigste habe ich euch noch gar nicht erzählt: Die Mutti von Felix kriegt noch ein Baby!« platzte sie heraus.
Das Interesse der Umsitzenden war nur mäßig. Das enttäuschte Sandra. Aber, na ja, ihre Mama hatte die Nachbarn kaum gekannt, und der Papa dachte auch nicht mehr daran. Aber er hatte doch aufgeblickt.
»Da wird Felix sich ja freuen«, meinte er.
»Nein, eigentlich gar nicht so besonders«, sagte Sandra. »Jedenfalls lang nicht so, wie ich mich auf Daniel gefreut habe.«
»Haste das?« warf ihr kleiner Bruder ein.
Sandra nickte, sie gab ihm einen zärtlichen Blick.
»Und ob!« versicherte sie, »das bedeutete doch, daß unsere Mama zu Hause blieb, und nicht nur wegen ihrer Hand. Darüber war ich ganz wahnsinnig glücklich. Und du doch auch, nicht, Mama? Du wolltest es auf einmal gar nicht mehr anders haben.«
»Ja, so war es«, stimmte die Mutter ihr zu. Aber Bianca Fabricius lächelte nicht dabei.
*
Die Schule war aus. Felix traf seinen Freund Holger auf dem Hof, ihr Heimweg führte in dieselbe Richtung.
»Wie war’s mit Mathe?« fragte Felix, denn er wußte, daß sie in der anderen Klasse heute eine Arbeit geschrieben hatten, vor der Holger ziemlichen »Bammel« hatte. Ihm, Felix, machte dieses Fach weniger Schwierigkeiten. In manchem konnte er dem älteren sogar schon helfen.
»Ging so«, antwortete Holger lahm. »Ich denke, daß ich’s nicht ganz versiebt hab’. – Kommst du heute nachmittag zu mir? Dann können wir uns was im Computer reinziehen.« Dieser Gedanke belebte ihn.
Felix zögerte. »Ich habe meiner Mutter versprochen, mit ihr Einkäufe zu machen für das Baby. Lust hab’ ich nicht dazu.«
»Kann ich mir vorstellen. Warum sollst du denn da mit? Das kann sie doch besser allein tun.«
Felix kickte ein Steinchen vor sich her. »Sie möchte immer, daß ich mich auch dafür interessiere, was es so alles brauchen wird.«
Sein Freund zuckte die Schultern. »Ihr zuliebe tu ich manchmal so, aber manchmal nervt’s mich auch, wenn sie davon anfängt«, bekannte er. »Vorher war bei uns alles einfacher und lustiger, irgendwie.«
»Weiß schon«, nickte Holger und machte eine erfahrene Miene dabei. »Das ist schon so eine Sache mit dem Kinderkriegen. Vorher und nachher immer ein ziemliches Theater. Da machen wir Männer schon was mit.«
»Ja.« Lebhaft hob Felix den Kopf. »Du hast doch zwei kleinere Schwestern. Bei mir wird es auch eine Schwester. Wie war das denn so, als die noch Babys waren?«
»Zuerst war gar nix«, antwortete Holger trocken. »Wenn sie nicht schlafen, dann schreien sie, weil sie Hunger haben oder Bauchweh oder Zähne kriegen. Da steht man dann dabei rum und fragt sich, warum Vater und Mutter die unbedingt noch haben wollten.«
»Hast du schon gesagt«, nickte Holger. »Aber meine Eltern kommen beide aus einer großen Familie und finden das schön. Und nachher ist es ja auch ganz schön, wenn sie erst größer sind. Doch, das ist es schon, Felix. Wirst du sehen. Zuerst muß man eben durch.«
Hier trennten sich ihre Wege.
»Vielleicht komm ich doch!« rief Felix Holger nach und wedelte schwach mit der Hand.
Er druckste herum, als seine Mutter nach dem Mittagessen die Küche aufgeräumt hatte und sich zum Ausgehen ankleidete. Sie zog das neue Wollkostüm an mit der lose fallenden Jacke, die die leichte Wölbung ihres Leibes verhüllte.
»Du bist ja noch nicht fertig, Felix«, sagte sie, als sie in sein Zimmer kam, wo er am Fenster stand und in den grauen Herbsttag blickte. »Du solltest doch den dickeren Pullover anziehen. Es ist ein kalter Wind draußen.«
»Muß ich denn unbedingt mit in die Stadt, Mama?«
Beate stutzte. Das hatte verdrossen geklungen.
»Du mußt nicht«, betonte sie. »Aber wir hatten uns das doch für heute vorgenommen. Wenn wir unsere Einkäufe erledigt haben, gehe ich mit dir auch noch ins Café König. Da bekommst du deinen Bienenstich, den du so gern ißt.«
Aber nicht einmal das schien ihn heute zu verlocken. Beate trat näher. »Warum willst du nicht mit, Schatz? Hast du noch Schularbeiten auf?«
»Ja«, sagte er schnell, erleichtert, daß sie ihm eine Brücke baute. »Und damit wollte ich eigentlich noch zu Holger gehen.« Er war rot geworden, weil das gelogen war mit den Schularbeiten. Es lag nämlich ausnahmsweise nichts vor. Der Lehrer hatte die Grippe.
»Ja, dann…« Beate war enttäuscht. »Schade. Du solltest die hübschen Dinge mit aussuchen, die ich für dein Schwesterchen kaufen wollte.«
»Als ob das nicht Zeit hätte!« entschlüpfte es dem Jungen. »Papa sagt das auch«, fügte er hinzu.
»Sicher hat das noch Zeit«, sagte Beate ruhig. »Ich sorge nur gern schon ein wenig vor. Wenn du keine Lust hast oder lieber gleich deine Aufgaben machst, dann fahre ich eben allein.«
»Okay, Mama.« Felix schlüpfte in seinen Anorak, den er über den Stuhl geworfen hatte. »Du mußt ja in die andere Richtung zur U-Bahn, also geh ich schon vor.«
»Und deine Schulsachen?« rief seine Mutter ihm nach.
»Ach so, ja, so was Dummes.« Er schnappte sich seinen Tornister. »Da hätt ich glatt noch mal zurückkommen müssen. Also, tschüs.«
Beate blieb zurück. Auf einmal hatte sie auch keine Lust mehr, in die Innenstadt zu fahren. Es war wirklich nicht so wichtig und schon gar kein Grund, traurig zu sein.
Aber sie war es doch.
Sie fühlte sich allein gelassen. Sie kannte ihren Sohn gut genug, um zu ahnen, daß er nur nach einem Vorwand gesucht hatte. Er wollte nicht daran denken, daß sie bald zu viert sein sollten. Darin war er wie sein Vater. Beide vermochten ihre Vorfreude nicht zu teilen, die sich bei ihr nun doch eingestellt hatte, wie es nur natürlich war. Davon wollten ihre beiden am liebsten nichts hören und sehen. Also würde sie noch warten, winzige rosa Sächelchen zu kaufen.
Sie