Doch das hier war etwas anderes. Dieses spezielle Gebäude beherbergte etwas, das kaum jemand je gesehen oder erfahren hatte. Etwas, das eine so hohe Geheimhaltungsstufe besaß, über die nur sehr wenige Menschen überhaupt verfügten. Die Frage lautete also: Wie hatte die Gruppe von dem Omega-Virus erfahren? Und daran schloss sich direkt eine zweite Frage an: Wie hatte es ihnen gelingen können, sich durch die Firewalls eines der komplexesten Computer- und Abwehrsysteme der Welt zu hacken? Um das zu bewerkstelligen, musste derjenige über absolut einzigartige Computer-Fähigkeiten verfügen. Doch die Leichen der drei Fanatiker schienen dieser Theorie entgegenzustehen, denn dies waren Gelegenheitsdiebe, keine Top-Verbrecher. Deshalb ergab das alles einfach keinen Sinn.
Zu dritt starrten sie das Foto des geheimnisvollen vierten Mannes an. Es war eindeutig, dass diese Person, wer immer sie auch sein mochte, das fehlende Puzzleteil bildete, um Licht in diese mysteriöse Angelegenheit zu bringen, die mehr Fragen als verwertbare Antworten aufwarf.
Wer auch immer dieser Mann war, er operierte offenbar undercover und besaß keine bekannten Verbindungen in die Vergangenheit oder die Gegenwart. Niemand hatte ihn auf dem Schirm und er tauchte in keiner Geheimdienstdatenbank auf. Der Mann war offenbar ein Phantom.
»Wie viel von dem Zeug wurde denn entwendet? Wissen Sie das schon?«, erkundigte sich Special Agent Denmore.
Avery Curtis nickte. »Zwölf Proben, wie man mir sagte.«
»Mehr nicht?«, wunderte sich Wheeler. »Nur zwölf Proben des Virus?«
»Glauben Sie mir, das ist mehr als genug«, erklärte Curtis. »Ein einziges Behältnis von diesem Zeug reicht anscheinend aus, um eine ganze Stadt zu entvölkern. Was es genau tut, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Aber wenn die Jungs vom CDC erst mal hier sind, werden wir mit ihnen Tacheles reden müssen, um herauszufinden, wozu dieser Virus genau imstande ist. In der Zwischenzeit haben wir bereits die NSA und das Weiße Haus verständigt. Im Moment behandeln wir den Fall erst einmal als Terrorakt, denn ganz offensichtlich hatten diese Leute fachkundige Unterstützung, und da die drei Toten noch dazu Verbindungen zu radikalen Fundamentalisten hatten, müssen wir davon ausgehen, dass diese Gruppe einen Biowaffenanschlag gegen irgendwelche amerikanischen Einrichtungen plant. Parallel suchen die Geheimdienste gerade in Dearborn nach den Anführern dieses besagten Netzwerkes. Hoffentlich finden wir dort einen Hinweis auf den vierten Mann. Denn wenn wir ihn gefunden haben, können wir vielleicht auch den Virus sicherstellen, bevor der Mann oder die Organisation, für die er arbeitet, den Inhalt der Proben freisetzen kann.«
Die Männer in der Lobby wussten ganz genau, dass die ersten achtundvierzig Stunden entscheidend sein würden. Fand sich innerhalb dieses Zeitfensters keine heiße Spur, war es so gut wie aussichtslos, an die Drahtzieher heranzukommen, und alles, was sie momentan besaßen, waren ein paar Aufnahmen eines Mannes, der anscheinend gar nicht existierte.
Alles, worauf sie im Moment hoffen konnten, war, dass ihnen der Zufall in die Hände spielte. Doch Zufälle konnten launisch sein.
Die Uhr tickte.
Kapitel 4
Die Saint Viators-Kirche
Las Vegas, NV
Dreizehn Uhr am nächsten Tag
Im Foyer der Saint Viators-Kirche herrschte komplettes Chaos. Der Opferstock links am Eingang war völlig zerstört worden, die Holzsplitter lagen überall auf dem Boden verteilt. Eine der Flügeltüren hing wie betrunken in den Angeln und das massive Weihwasserbecken war ebenfalls umgestoßen worden. Das Wasser darin hatte sich über den Steinboden ergossen.
Pater Donavan stand an der Türschwelle und betrachtete das Chaos. Es war leider nicht das erste Mal und alles andere als ein Einzelfall. Die Saint Viators-Kirche befand sich im Zentrum von Las Vegas und nicht weit vom Clark County Detention Center entfernt, einem bekannten Gefängnis. Seit Jahren schon ging es mit dem Viertel bergab und die Kriminalitätsrate explodierte mehr und mehr. Erst vor zwei Wochen, kurz nachdem die Kirche Sicherheitskameras hatte installieren lassen, hatte man diese aus ihren Verankerungen gerissen und gestohlen. Keine zwei Tage hatten die Kameras an den Wänden gehangen.
Der Priester seufzte, schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen.
»Ich mache das alles für Sie sauber, Pater«, erschreckte den Jesuiten eine Stimme hinter sich.
Als der Priester Kimball Hayden vor vielen Monaten das erste Mal begegnet war, hatte dieser ihm ein Bündel Geldscheine überreicht. Über sechstausend Dollar, die er in Käfigkämpfen in verschiedenen Etablissements in ganz Las Vegas verdient hatte. Der große Mann war einfach auf das Tor zugelaufen, hatte nach dem Priester gerufen und ihm gesagt, dass er das Geld für etwas Gutes verwenden solle, was Pater Donavan auch getan hatte. Von dem Geld hatten sie Pritschen, Bettwäsche und Essen für Obdachlose anschaffen können. Den Mann hatte er nie wiedergesehen, bis er vor zwei Monaten plötzlich vor der Tür des Pfarrhauses gestanden und darum gebeten hatte, ohne Bezahlung hier arbeiten zu dürfen. Er wolle nur etwas zurückgeben. Der Priester hatte ihn sofort wiedererkannt, und als er Kimball nach seinem Namen gefragt hatte, erklärte ihm Kimball, dass der Priester ihn einfach Seth nennen sollte. Pater Donavan ließ es dabei bewenden und fragte nicht weiter nach.
»Seth.« Der alte Mann klang erleichtert, doch dann schüttelte er betroffen den Kopf. »Ich weiß, es sind harte Zeiten«, konstatierte er würdevoll, »aber dies ist doch immer noch das Haus Gottes!«
»Unglücklicherweise bedeutet das sehr vielen Leuten nichts mehr, Pater.« Kimball ließ sich auf die Knie sinken und begann augenblicklich, die Überreste des zersplitterten Opferstocks aufzusammeln.
Pater Donavan kauerte sich ebenfalls auf den Boden nieder und klaubte die Trümmer des Weihwasserbeckens vom Boden. »Es ist schon das dritte Mal in den letzten vier Monaten, dass ich eine neue Kiste kaufen muss«, sagte er. »Doch ich weiß nicht, wie ich dieses Becken ersetzen soll. Sie sind nicht gerade billig.«
»Vielleicht kann ich Ihnen da behilflich sein, Pater.«
»Seth, ich kann dich unmöglich um noch mehr bitten. Du hast dieser Kirche schon so viel gegeben.«
»Der Kirche kann man nie genug geben, Pater. Niemals.«
Der Priester sah Kimball an und fragte sich, was einen Mann wie ihn glauben ließ, dass er in den Augen Gottes nie genug würde opfern können. Menschen wie Seth war er schon oft begegnet. Menschen, die mit ihrer Absolution nie im Reinen waren, egal, wie viel sie auch anboten, und in Seths Fall geisterte ihm wieder die gleiche Frage durch den Kopf: Welches Verbrechen hast du begangen, dass du glaubst, dass Gott dir niemals vergeben wird?
»Ich finde schon eine Arbeit«, erklärte ihm Kimball. »Ich werde das Geld auftreiben.«
»Diese Dinge zu ersetzen, ist eine Sache«, meinte Donavan. »Dafür zu sorgen, dass sie unversehrt bleiben, eine ganz andere. Jedes Mal, wenn ich Überwachungskameras aufstellen lasse, werden sie gestohlen. Wenn ich die Türen verriegele, werden sie aufgebrochen, und ich kann es mir nicht leisten, die Türen dieser Kirche rund um die Uhr verschlossen zu halten, wenn so viele Menschen dort draußen eine Zuflucht suchen.«
»Haben Sie schon die Polizei gerufen?«
»Bereits viele Male«, erwiderte Pater Donavan. »Doch obwohl ich weiß, wer es getan hat, habe ich keinen Beweis dafür.«
Kimball hörte auf, die zerbrochenen Teile der Kiste zusammenzusuchen, und schaute ihn überrascht an. »Sie wissen, wer dafür verantwortlich ist?«, fragte er und deutete auf das Durcheinander im Foyer.
»Zuerst nur vom Hörensagen«, antwortete der Priester. »Deshalb habe ich ja überhaupt erst die