ALTE WUNDEN (Die Ritter des Vatikan 6). Rick Jones. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rick Jones
Издательство: Bookwire
Серия: Die Ritter des Vatikan
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958354937
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      »Eher ein Ersatzvater.« Bilder von Bonasero Vessucci zogen jetzt vor seinem geistigen Auge vorbei, kurze Momentaufnahmen, als sie sich in einer kleinen Bar in Venedig getroffen hatten, bis hin zu ihrem letzten Treffen, bevor er sich dazu entschloss, gegen die Statuten des Vatikan zu verstoßen.

      »Lebt er noch?«

      Verzweifelt sah er sie an. »Das tut er.«

      Als sie seinen schmerzerfüllten Blick bemerkte, runzelte sie die Stirn. »Stimmt etwas nicht, Seth?«

      »Es ist kompliziert«, erwiderte er.

      »Versuch es.«

      Kimball sah zur Decke hinauf, während er nach den richtigen Worten suchte. »Wie ich schon sagte, habe ich in meinem Leben furchtbare Dinge getan.« Während er diese Worte sprach, hoffte er inständig, dass er sie mit seinem Geständnis nicht vertreiben würde. »Und damit meine ich wirklich furchtbare Dinge. Dinge, die er mir niemals vergeben könnte, weil ich sie gegen seinen ausdrücklichen Wunsch getan habe.«

      Zu seiner Überraschung streckte Schwester Abigail ihre Hand aus, ergriff seinen Arm und zog ihn zu sich. »Du schämst dich«, konstatierte sie.

      »Ich habe weder den Mut noch die innere Stärke, ihm in die Augen zu blicken und das Leid darin zu sehen, das ich selbst verursacht habe.«

      »Woher weißt du denn, dass du ihm wirklich Leid zugefügt hast?«

      »Wie ich schon sagte, es ist kompliziert. Sie müssen mir vertrauen, wenn ich Ihnen sage, dass er die höchsten moralischen Werte überhaupt vertritt, und das, was ich getan habe, Schwester Abigail, kann er mir niemals vergeben, egal wie sehr er mich vielleicht auch liebt.«

      »Seth?« Nun klang sie besorgt. »Hast du jemanden getötet?«

       Unzählige.

      »Verzeihen Sie, Schwester. Alles, worum ich Sie bitte, ist, meine Privatsphäre zu respektieren. Was ich für diese Kirche tue, tue ich aus freiem Willen und weil ich Freude dabei empfinde.«

      Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. »Wie du willst, Seth. Ich hatte nur gehofft, etwas von der harten Schale entfernen zu können, damit auch du sehen kannst, was ich sehe.«

      »Und das wäre?«

      »Einen guten Menschen.«

      Kimball spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, während er mit den Tränen rang. Zu gern wollte er, dass sie in ihm das gleiche wie andere sah, das Gute, das ihm selbst verborgen blieb. Wie aber soll jemand das Anständige in einem Menschen sehen können, wenn an dessen Händen das Blut anderer klebt?

      »Ich bin mir sicher, dass dieser Mensch, der dich einmal aufgerichtet hat, es wieder tun würde«, fügte sie hinzu. »Du solltest einfach Verbindung mit ihm aufnehmen, Seth. Finde den Mut und wende dich an ihn.«

      Hier stand ein Mann, der sich den Unwägbarkeiten zwischen Leben und Tod im Kampf gegenübergesehen hatte, der immer an der Frontlinie gestanden und seinem Feind ins Gesicht geblickt hatte. Aber der Gedanke daran, einem alten, gebrechlichen Mann gegenüberzutreten ängstigte ihn mehr, als er es in Worte fassen konnte. Die Vorstellung, auch nur einen Anflug von Enttäuschung in Bonasero Vessuccis Augen zu sehen, kam der Hölle auf Erden gleich. Ich … ich kann das nicht.

      »Weißt du, was ich außer einem guten Menschen noch sehe?«, fragte sie ihn jetzt.

      Er antwortete ihr nicht.

      »Ich sehe einen kleinen Jungen, gefangen im Körper eines Erwachsenen, und dieser kleine Junge ruft nach Hilfe.« Sie entfernte sich ein paar Schritte von ihm und strich mit ihren Fingern über den Opferstock. »Das ist hier eine gute Arbeit, Seth. Pater Donavan und ich danken dir sehr dafür. Ich bete nur, dass diese Vandalen sie genauso wertschätzen werden wie wir.«

      »Machen Sie sich keine Sorgen, Schwester. Der kleine Junge wird dafür sorgen, dass die Kiste in Zukunft so bleibt, wie sie ist.«

      Sie drehte sich zu ihm und schenkte ihm ihr wundervolles Lächeln. »Das hoffe ich«, sagte sie. »Denn ich würde es furchtbar finden, wenn etwas so Schönes zerstört werden würde.«

      Kimball war sich nicht sicher, ob sie damit die Kiste oder ihn meinte. Er war immer gut darin gewesen, das Leid anderer zu lindern, und war als Problemlöser unübertroffen. Sich selbst zu retten, gelang ihm jedoch nicht. Als er ihr antwortete, tat er so, als hätte sie von der Kiste gesprochen. »Keine Sorge, Schwester. Jeder, der sich noch einmal dieser Kirche nähert, um sie zu bestehlen, wird es bitter bereuen.«

      Sie blinzelte, aber nicht auf kokette Weise. »Jetzt spricht der kleine Junge wieder wie ein Mann«, sagte sie scherzhaft. Sie wandte sich zum Gehen. »Du solltest ihn aufsuchen, Seth. Wir sind nur einmal auf dieser Welt, und es wäre eine Schande, den Rest des Lebens mit einem Bedauern leben zu müssen, für das es gar keinen Grund gibt.«

      Dann war sie verschwunden, und die Lebendigkeit, die sein Herz erfüllte, wann immer sie in seiner Nähe war, verschwand mit ihr.

      Er widmete sich nun wieder seiner Kiste, betrachtete sie, strich mit seinen Fingerspitzen über das eingravierte Kreuz und dachte an Bonasero. Anders als sein leiblicher Vater, der sein Leben lang andere schikaniert hatte, ohne je wirklich etwas zu erreichen, war Bonasero Vessucci ein guter und großherziger Mann, der sein Leben in den Dienst der Menschen gestellt hatte, und er vermisste ihn.

      Er vermisste ihn so sehr.

      Kapitel 7

       Bensenville, New Mexiko

       16:17 Uhr

      Nachdem die Behörden der benachbarten Ortschaften von den beiden Brüdern über die Geschehnisse in Bensenville unterrichtet worden waren, machte sich sofort ein immenses Militäraufgebot auf den Weg. Alle Zufahrtsstraßen zu der Stadt wurden abgeriegelt. Militärfahrzeuge mit Abdeckplanen säumten in einem Umkreis von beinahe zwei Meilen die Straßenränder und bewaffnete Soldaten in Schutzanzügen bewachten die Eingänge.

      Auf einem flachen Geländeabschnitt westlich von ihnen starteten gerade drei Helikopter. Die Rotoren drehten sich bereits so schnell, dass sie vor den Augen verschwammen, und der Aufwind wirbelte Staub in der Farbe des Wüstensandes auf, als sie sich in die Lüfte erhoben und auf die Stadt zuhielten.

      In dem führenden Hubschrauber befanden sich Jason Melbourne von der NSA, Stephen Kendrick und Pauline Child vom CDC und Jerald Seymour vom Department of Counter Terrorism. Jeder von ihnen trug einen Schutzanzug. An Bord der anderen beiden Hubschrauber waren insgesamt sechzehn bewaffnete Männer einer Eliteeinheit.

      Seymour brütete momentan über einigen Dokumenten. Ohne aufzublicken, murmelte er gedämpft hinter dem Plexiglas seines Gesichtsschutzes: »Wie groß ist die Einwohnerzahl dieser Stadt?«

      Melbourne blätterte hastig durch seine eigenen Unterlagen. »Vierundachtzig«, antwortete er dann.

      »Opfer?«

      »Bisher noch unbekannt«, erwiderte Melbourne.

      »Was ist mit den beiden Brüdern?«

      »Die befanden sich zwei Meilen entfernt auf einem Jagdausflug, diese Gegend liegt aber nichtsdestotrotz in der Quarantänezone. Doch es scheint ihnen gutzugehen.«

      »Keine Hinweise darauf, dass sie das Virus in sich tragen?«

      »Bislang nicht.«

      Seymour legte seine Dokumente jetzt beiseite. »In Ordnung«, begann er. »Im Prinzip arbeiten wir alle für die Regierung. Ich denke, es dürfte klar sein, dass alles, was wir hier entdecken, im Interesse der nationalen Sicherheit der absoluten Geheimhaltung unterliegt. Was wir heute in dieser Stadt vorfinden werden, wird ausschließlich an das National Security Council und die National Security Defense übermittelt werden. Habe ich mich da klar ausgedrückt?«

      Reihum stimmten ihm alle mit einem Kopfnicken hinter ihren Plexiglasmasken zu.

      Melbourne