Zenjanisches Feuer. Raik Thorstad. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Raik Thorstad
Издательство: Bookwire
Серия: Zenja
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958238329
Скачать книгу
zu sich gekommen, konnte er sich nicht lange gegen den Druck in seinem Unterleib wehren und verließ das Nest, das in der Nacht durch ihre unwillkürlichen Bewegungen entstanden war.

      Er ging ungern. An Schlaf mangelte es ihm nicht, dafür aber an jenen friedlichen Stunden vor dem Aufstehen, in denen man sich der Anwesenheit eines anderen Menschen wohlig bewusst war. Aber was sollte er sich gegen das Drängen seines Körpers wehren, wenn er von nun an hoffentlich die meisten Tage mit einer fremden Hand auf seinem Bauch oder dem Gesicht in weichem Haar beginnen würde?

      Mit einem unvertrauten, aber angenehmen Gefühl in der Brustgegend schlüpfte Sothorn in Stiefel und Hose und kroch aus dem Zelt. Auch wenn die Sonne bereits aufgegangen war, lag ihr stiller Lagerplatz im Schatten des Riesengebirges. Es würden Stunden vergehen, bevor das erste Licht die bewaldete Halbinsel erreichte, und vermutlich genauso lange, bis die letzten Mitglieder der Bruderschaft wieder fest auf den Beinen standen.

      Sothorn ging hinunter an den Felsstrand, um sich im Schutz der Böschung zu erleichtern. Er musste jedoch feststellen, dass sein angepeilter Platz bereits besetzt war: Der kleine Till kauerte auf den Knien und erbrach sich unter grausigen Lauten. Seine Mutter Nouna stand neben ihm, wippte fast unmerklich mit dem Fuß und hielt ihre hochgewachsene Gestalt auf eine Weise, die selbst Sothorn inzwischen mit drohendem Ärger verband; von ihren Kindern ganz zu schweigen.

      Als sie ihn bemerkte, zog sie einen Mundwinkel hoch. »Ich hoffe, der Taugenichts hat dich nicht aufgeweckt. Es reicht mir schon, dass er all seine Geschwister hochgetrieben hat.«

      »Wenn sich nicht noch jemand die Seele aus dem Leib speit, fürchte ich doch«, erwiderte Sothorn mit Blick auf den Jungen, der sich inzwischen aufgesetzt hatte und keuchte, als wäre er stundenlang gerannt. »Krank oder der Most?«

      »Letzteres«, grollte Nouna. »Ich habe ihm gesagt, dass er es bleiben lassen soll. Aber natürlich musste er sich vor den anderen Kindern aufspielen und einen Krug stibitzen… Und nun stehe ich hier und darf mir die Schweinerei anschauen.«

      Sothorn nickte mitfühlend, auch wenn sein Mitleid eher Till als Nouna galt. Nicht, dass er etwas gegen die fähige Jägerin und Herrin über ihre Gebirgspferde einzuwenden hatte, aber der Most, den die Bruderschaft in diesen Tagen trank, war nicht der angenehmste Begleiter, um einen ersten Rausch und dessen Folgen zu erleben. Es war ein widerwärtiges Gebräu, das sie im hintersten Laderaum aus verfaulten Äpfeln und Trauben angesetzt hatten, und verbrannte selbst erfahrenen Zechern den Magen.

      Nachdem Sothorn ein Stück die Küste hinunter sein Wasser abgeschlagen hatte, trat er auf den steinigen Strand und sah hinüber zur Henkersbraut, die reglos auf dem Wasser lag. An Deck erkannte er eine einsame Gestalt, die an der Reling lehnte. Wahrscheinlich handelte es sich um Aily. Sie war die Einzige, die auch dann an Bord des Schiffs übernachtete, wenn sie an Land ein Lager aufschlugen. Die Henkersbraut war das einzige Zuhause, das sie brauchte.

      Sothorn sah sie winken und hob den Arm, um den Gruß zu erwidern, als ihm auffiel, dass er nicht ihm gegolten hatte. Ein paar Hundert Schritte von ihm entfernt stand Theasa auf einer Landzunge. Sie trug ihren dicksten Mantel und hatte die Arme um den Körper geschlungen, als fröstele sie. Das tat sie in letzter Zeit häufig – unabhängig von der Witterung.

      Sothorn dachte an Geryim unter ihren warmen Decken. An den Mann, der nahezu unverletzt zu ihm zurückgekehrt war und jetzt endlich ihm gehören durfte. Falls er das wollte.

      Wieder stieg ein unergründliches Gefühl in Sothorn auf. Ihm fehlte nach wie vor die Fähigkeit, seinen Empfindungen Begriffe zuzuordnen, die auch andere verstanden hätten. Irgendwann würde er auch diesen Teil seiner Seele zurückgewinnen. Doch bis dahin fiel es ihm leichter, in Bildern zu denken.

      Das Gefühl, das Geryim in ihm auslöste, hatte etwas von einem reißenden Fluss, der mit so atemberaubender Geschwindigkeit und Schönheit über einen Wasserfall donnerte, dass man beinahe vergaß, welche Gefahren von ihm ausgingen. Und während Sothorn wusste, dass ihm ein Sturz in einen solchen Fluss entweder die Knochen zerschmettert oder ihn ersäuft hätte, war er nicht ganz sicher, wie die Gefahr aussah, die von Geryim ausging.

      Sothorn kniff sich in den Nasenrücken. Wenn er in den vergangenen Monaten eines gelernt hatte, dann, dass er seine Menschwerdung und die Neuentdeckung seines Ichs nach Jahren der Taubheit weder beschleunigen noch verlangsamen konnte. Das war genauso unmöglich, wie eine Blume anzutreiben zu blühen oder von einer Ziege zu verlangen, dass sie ihr Euter schneller füllte.

      Letztendlich sorgte Theasas Anblick dafür, dass Sothorn sich gegen eine Rückkehr ins Zelt entschied. Es war nicht gut, sie so einsam aufs Meer blicken zu sehen. Man konnte ihre Verzweiflung beinahe in der salzigen Luft schmecken.

      Langsam ging er ihr entgegen. Die glatt geschliffenen Steine unter seinen Füßen waren von feuchten Algen bedeckt und in einiger Entfernung waren die Knochen eines gewaltigen Meerestieres ans Ufer gespült worden. Sothorn hätte es gern gesehen, als es noch am Leben gewesen war.

      Sobald er die Landzunge erreicht hatte, überwand er die Abbruchkante und stellte sich neben Theasa. Der Wind traf hier in einem anderen Winkel auf die Küste und peitschte ihm über das Gesicht. Wenn er nicht schon zuvor recht munter gewesen wäre, dann spätestens jetzt.

      »Wird das zu einer neuen Unart von euch beiden?«, fragte Theasa heiser. Vor vielen Jahren hatte etwas in ihrem Hals Schaden genommen, als jemand versucht hatte, ihr die Kehle durchzuschneiden. Ihre Stimme hatte sich nie davon erholt. Dennoch hatte Sothorn den Eindruck, dass sie ihr in diesen Tagen häufiger brach als früher.

      »Unart?«, wiederholte er.

      Theasas Blick blieb auf das Meer gerichtet. »Trotz Eiseskälte ganz oder halb unbekleidet durch die Gegend zu laufen.«

      Im ersten Augenblick wusste Sothorn nicht, worauf sie hinauswollte, doch dann wurde ihm bewusst, dass er zwar eine Hose und Stiefel trug, doch nichts darüber hinaus. Dennoch fror er nicht. Gut möglich, dass er sich immer noch an der Aufregung wärmte, die ihn in den vergangenen Tagen begleitet hatte. Genau genommen seitdem Geryim ihn gebeten hatte, während seines Mannbarkeitsrituals den Zeugen zu geben und zudem seinen gesamten Stamm zu ersetzen. Gwanja hatte es ihm ermöglicht, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

      »Ich habe nicht vor, es zur Gewohnheit werden zu lassen.«

      Theasa stieß einen angewiderten Laut aus und zog ihren Umhang enger um sich. Eine Weile schien es, als hätte sie nichts mehr zu sagen, doch dann richtete sie erneut das Wort an ihn. »Und? Wie geht es ihm nun?«

      Es war eine schlichte Frage, aber so bedeutungsvoll, dass Sothorn sich mit der Antwort Zeit ließ. »Er hat noch geschlafen, als ich aufgestanden bin«, begann er vorsichtig. »Und ich kann und will nicht für ihn sprechen…«

      »Das würde dir auch nicht bekommen!«, unterbrach ihn Theasa und warf ihm erstmalig einen Seitenblick zu. Kurz lachten sie gemeinsam auf.

      »Es hat ihm viel bedeutet«, sagte Sothorn schließlich. »Sowohl das Ritual selbst als auch die Tatsache, dass wir es ihm ermöglicht haben. Doch ich weiß nicht genug über diese Riten, um vorherzusagen, inwieweit sie…« Er geriet ins Stocken. Inwieweit sie ihn verändern werden, hatte er sagen wollen, aber das erschien ihm gefährlich. Nach einer solchen Bemerkung stünde die Frage im Raum, ob und wenn ja, welche Veränderungen er sich erhoffte. Dabei war er sich darüber selbst nicht im Klaren und nicht einmal sicher, ob er überhaupt ein Recht auf solcherlei Hoffnungen hatte.

      Sicher, Geryim war launenhaft und sein Verhalten oftmals schwer nachzuvollziehen, aber wenn man ihm das nahm, wäre er dann überhaupt noch er selbst?

      Theasa schien sich nicht mit Gewissensfragen herumzuschlagen. »Es wäre gut, wenn er etwas Frieden finden könnte. Und zwar nicht nur für ihn. Das Leben an Bord…« Sie zog die Nase hoch und spuckte ins Wasser. »Es sind nicht nur die Kinder und Pferde, die allmählich rastlos werden. Und ich kann nicht meine ganze Zeit damit verschwenden, Streitereien zu schlichten oder Wunden zu verbinden.«

      Von letzteren gab es immer noch zu viele. Das Inferno in ihrer früheren Heimstatt klebte an ihnen wie der Rauch, der sich in ihren Haaren und wenigen verbliebenen Besitztürmern verfangen hatte. Sothorns Hände waren zu