Elanor nickte kaum merklich. Es war angenehm warm in seinen Armen und sie ließ ihre Augen zufallen. Genau so, wie er es beschrieb, hatte es sich angefühlt, als Maryn ihr die Botschaft überbrachte. Seither war sie wie ein dünnes Stück Stoff, an dem von allen Seiten gezerrt wurde. Jede Faser gab einzeln nach und inzwischen wurde sie nur noch von wenigen Fäden zusammengehalten.
»Was mir letztlich geholfen hat, darüber hinwegzukommen, warst du. Du warst noch so klein und plötzlich verloren ganz ohne deine Eltern. Ich wusste, dass du meine Hilfe brauchst. Also habe ich alles darangesetzt, dir eine schöne Kindheit zu schenken. Aber … ich war nicht immer erfolgreich damit, nicht wahr? Ich war nicht so oft für dich da, wie ich es hätte sein sollen.«
Elanor legte die Stirn in Falten. »Faredir …«
Das Gesicht ihres Onkels verdunkelte sich. »Sag mir nicht, dass das nicht wahr ist. Vor allem, nachdem Lornien verstorben ist, warst du den ganzen Tag alleine. Ich habe morgens das Haus vor dir verlassen und bin erst spätabends zurückgekommen.«
»Aber immer noch pünktlich, um mir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen«, erwiderte Elanor leise. Lornien war seine erste Frau gewesen. Elanor erinnerte sich nur noch vage an sie. »Ohne die Schneiderei hätten wir kein Obdach, keine Kleidung oder Essen. Ich kann dir nicht zum Vorwurf machen, für unseren Lebensunterhalt gearbeitet zu haben.«
»Und trotzdem hätte ich mehr Zeit für dich aufbringen sollen«, murmelte er und strich ihr die Haarsträhne hinters Ohr, in die sie ein weißes Band eingeflochten hatte.
»Du hast getan, was du konntest, obwohl du es auch nicht leicht hattest. Mehr wollte ich nie«, raunte sie.
Faredir lächelte. »Ich weiß, dass der Schmerz jetzt unerträglich scheint. Jemanden zu verlieren, den man liebt, ist ein schweres Los. Deine Kinder werden dir die Kraft geben, weiterzumachen.«
»Wird es je aufhören wehzutun?«, fragte Elanor gedämpft.
Faredir schwieg einen Moment. »Nein. Aber du wirst lernen, mit dem Schmerz zu leben. Und eines Tages vielleicht eine neue Liebe finden. Ich dachte auch, dass ich mich nie wieder verlieben würde, nachdem Lornien gestorben ist. Und nun bin ich wieder verheiratet und liebe Panova über alles.«
Elanor löste sich langsam von ihm. »Ich hab dich lieb, Onkel.«
»Ich dich auch, mein Gänseblümchen.« So hatte er sie das letzte Mal genannt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Faredir schloss seinen Mantel.
»Darf … ich dir noch eine Frage stellen?«
»Mhm«, brummte ihr Onkel.
Elanor starrte zögernd auf die eichenblattförmigen dunkelbraunen Holzknöpfe seines Mantels. »Gab es Magier in unserer Familie?«
Faredir runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«
»Noriel und ich haben uns heute darüber unterhalten, dass Hochelfen Magie im Blut haben«, erklärte Elanor rasch. »Sie sagte mir, dass jeder sie erlernen kann, wenn das Potenzial dafür vorhanden ist.«
»Ach, Kind. Was willst du denn mit Magie?«, seufzte ihr Onkel.
Elanor musterte ihre Hände. »Ich will meine Kinder und mich verteidigen können, aber körperlich habe ich einem Angreifer nicht viel entgegenzusetzen. Mit Magie allerdings …«
»Verstehe.« Faredir kratzte sich an der Augenbraue. »Nun, ich weiß nichts von Magiern in unserem Stammbaum. Allerdings reicht unsere Blutlinie mehrere Jahrhunderte zurück. Es ist also durchaus denkbar, dass sich unter ihnen ein Magier befunden hat. Aber setz nicht so viele Hoffnungen darauf. Selbst wenn es jemanden gab, der zaubern konnte, glaube ich nicht, dass du heute etwas davon hast. Mit solchen Gaben ist es wie mit Wein, den man mit Wasser aufgießt: Sie verdünnen mit der Zeit.« Er schwieg einen Moment. »Veilchen, wenn du um dein Wohlbefinden fürchtest, kannst du für die restliche Schwangerschaft bei Panova und mir wohnen. Wir gehen dann gemeinsam zur Arbeit und nach Hause.«
Elanor lächelte dankbar. »Ich denke darüber nach. Trotzdem wäre es durchaus praktisch, wenn ich Flammen in meinen Händen beschwören könnte, meinst du nicht auch?«
Ihr Onkel schmunzelte. »Mir würden schon Zaubersprüche für den Haushalt genügen. Einmal das.« Er schnipste mit den Fingern. »Und all der Schmutz ist fort, die Betten sind gemacht und das Essen steht warm auf dem Tisch.«
Sie verließen das Gebäude, und Faredir schloss die Tür hinter ihnen ab.
»Wo wir gerade von Panova sprachen, wie geht es ihr?«, erkundigte sie sich, um ein neues Thema in den Vordergrund zu rücken. Faredir hatte die Waldelfin kennengelernt, als Elanor sechzehn Jahre alt gewesen war, beinahe zehn Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau.
»Oh, es geht ihr gut«, entgegnete ihr Onkel leichthin. Er holte seinen Geldbeutel aus der Gürteltasche und zählte die Münzen. »Da fällt mir ein, dass ich ihr ein paar Blumen mitbringen wollte … Ah, würdest du mir helfen, einen Strauß für sie auszusuchen?« Er bot ihr seinen Arm an.
Elanor lächelte sacht und hakte sich bei ihm unter. Gemächlich schlenderten sie über den weitläufigen Markt Malachits. Wachsam ließ die Waldelfin den Blick schweifen. Die meisten Händler bauten ihre Stände ab. Diejenigen, die es nicht taten, bewarben ihre Güter für die Hälfte des Preises, die sie am Tage gekostet hatten.
Die Floristin, die sie letztlich ansteuerten, war eine Hochelfin, die in etwa in Noriels Alter sein durfte. Ihre Augen waren vom selben leuchtenden Gelb wie die Narzisse in ihrem langen weißen Haar.
»Willkommen! Ihr habt Glück, ich wollte gerade abbauen«, sagte die Floristin. »Was kann ich für Euch tun?«
»Ich suche Blumen für meine Liebste«, antwortete Faredir.
Träge senkte Elanor ihr Kinn in Richtung Brust. Gerne hätte sie sich gegen den Stand gelehnt und für ein paar Sekunden die Augen geschlossen. Sie war so verdammt müde.
Mit kühlen Fingern massierte sie sich die halb geschlossenen Lider, während sie vorgab, die Blumen vor sich besonders intensiv zu betrachten.
Letzte Nacht hatte sie wieder von Dûhirions Tod geträumt. Da sie nicht wusste, wie Umbra ihn getötet hatte, füllte ihre ausschweifende Vorstellungskraft die Lücken. Sie hatte ihn in ihren Träumen ertrinken oder von einem Strick hängen sehen. Hatte gesehen, wie man ihm den Kopf abschlug oder seine Kehle durchtrennte. Jedes Mal stand sie inmitten der jubelnden Meute und war unfähig, ihm zu helfen.
»Veilchen?«
Elanor blinzelte. »Entschuldige. Hast du etwas gesagt?«
»Nein, aber ich habe etwas für dich.« Er steckte ihr eine Blüte ins Haar. Ein Veilchen. »Eine Blume für meine Blume.«
Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte er das oft getan. Vor allem, wenn er lange arbeiten musste, war er mit einer Blüte für sie nach Hause gekommen, die er ihr ins Haar gesteckt hatte. Dass er diese kleine, liebevolle Geste nun wiederholte, rührte sie.
»Danke«, raunte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Faredir nahm den fertigen Strauß von der Floristin entgegen und bezahlte. Dann gingen sie langsam weiter zu Elanors Haus.
»Kann ich dich etwas fragen?«, begann er, nachdem sie eine Weile still nebeneinander hergelaufen waren. »Warum liegt dir so viel an Dunkelelfen? Warum geht dir ihr Schicksal so nahe, dass du alles riskierst, um ihnen zu helfen?«
»Weil es sonst keiner tut«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Es ist falsch, wie die Dunkelelfen Adulars behandelt werden. Die Freien Länder außerhalb des Kaiserreiches zeigen es doch deutlich. Dort sind die Dunkelelfen frei und ein Teil der Gesellschaft, statt ausgestoßen zu sein.«
»Gut, das verstehe ich.« Faredir nickte bedächtig. »Aber warum bist du so … offensiv mit deiner Hilfe?«
Elanor