Emil Steinhilber war außer sich.
»O mein Gott, o mein Gott, o mein Gott!«
Fee gab der Schwester ein Zeichen, sich um den Senior zu kümmern. Sie selbst beugte sich über den Jungen und strich ihm ein paar Strähnen aus der verschwitzten Stirn.
»Was machst du denn für Sachen?« In diesem Augenblick war sie ganz Mutter.
»Ich wollte nur aufstehen. Und dann war plötzlich mein Bein weg. So ein krasses Gefühl hatte ich noch nie.«
»Hat er etwa Lähmugserscheinungen?« Emil saß auf einem Stuhl in der Ecke. Das Glas in seiner Hand zitterte.
»Das ist eine der möglichen Nebenwirkungen bei der Einspritzung des Lokalanästhetikums. Eigentlich sollte dieses ›krasse‹ Gefühl gleich vorbei sein.« Wieder einmal war Fee ihren Kinder dankbar für das, was sie von ihnen lernte. Egal, ob es darum ging, die eigenen Grenzen zu erfahren, ungewöhnliche Wege zu gehen, neue Technologien kennenzulernen, offen für Fremdes zu sein oder einfach nur darum, Unsinn zu machen: Die Schule, in die ihr Nachwuchs sie schickte, war mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Das bewies auch Julius’ Lächeln. Sein Vertrauen hatte sie im Handumdrehen gewonnen. Ganz im Gegensatz zu seinem Großvater.
»Diese ganze Behandlung hat überhaupt nichts gebracht. Ich hätte mich doch lieber an Dr. Lammers wenden sollen«, schimpfte Emil aus seiner Ecke.
Felicitas stand der Mund offen. Langsam zählte sie im Geiste bis drei.
»Der Fehler liegt nicht bei mir«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich kann mir nur vorwerfen, nicht von Anfang an auf der Operation bestanden zu haben.« Sie griff nach dem Coldpack, das in einer Nierenschale am Fußende des Bettes lag. »Hier, das ist zur Kühlung«, sagte sie zu Julius. »Das kannst du auf die Einstichstelle legen, falls sie dich ärgert.« Sie hielt ihm die Hand hin und er klatschte ein.
Emil schnaubte ärgerlich dazu.
»Immer noch derselbe Kindskopf wie damals.«
»Vielen Dank für das Kompliment.« Felicitas setzte sich zu ihm an den Tisch und sah ihm ungeniert in die Augen.
»Julius’ Befund könnte nicht eindeutiger sein. Eine Operation ist die einzige Therapie, die Ihrem Enkel helfen kann.«
Dr. Steinhilber presste die Lippen aufeinander und sah weg.
»Es ist nicht fair, Julius die Chance auf vollständige Heilung zu nehmen«, fuhr Fee fort.
»Aussicht auf vollständige Heilung. Routine-OP!« Emil schnaubte wie ein Ochse. »Das hört man ja ständig. Und wenn es dann schief geht, gehen die Fälle an die Anwälte.«
»Sie müssen keine Angst haben.« Einen winzigen Augenblick schwebte Fees Hand in der Luft. Dann legte sie sich leicht wie eine Feder auf Emils Hand.
»Ich werde Julius wieder auf seinen Scooter bringen. Aber das geht nur, wenn Sie einer OP zustimmen.«
»Mann, Opa. Wenn sogar Frau Dr. Norden das sagt, dann wird es schon gut gehen«, rief Julius aus dem Hintergrund. »Ich will wieder Scooter fahren und Wettbewerbe gewinnen.«
Emil senkte die Augen und starrte auf den Boden. Als Fee schon dachte, keine Antwort mehr zu bekommen, schüttelte er langsam den Kopf.
»Nein. Keine Operation.« Der Rest seines Satzes ging in Julius’ Wutanfall unter.
*
»Jetzt klicke ich hier auf die Krankenhausapotheke, und dann … äh, Medikamentenaustattung?« Dr. Norden saß am Schreibtisch. Er hatte den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und drückte auf der Computertastatur herum, ganz so, wie es ihm der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs am anderen Ende der Leitung diktierte. Die Tür öffnete sich, und Oskar steckte den Kopf ins Zimmer. Daniel blickte auf und winkte ihn zu sich.
»Vorsicht!«, raunte Oskar ihm zu. »Als du das letzte Mal mit Janni und mir Computer gespielt hast, ist in ganz München der Strom ausgefallen.«
»Das war nicht ich. Das war ein Blitzeinschlag … Was? Nein, ich meine nicht Sie, Herr Fuchs. Ich melde mich wieder.« Daniel legte auf.
»Das haben die Leute von den Stadtwerken nur gesagt, um die Bevölkerung zu beruhigen. Was machst du überhaupt da?« Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, linste Oskar über den Rand des Bildschirms.
»Eine Aufstellung des Medikamentenverbrauchs für unseren Sparfuchs.« Daniel schob die Tastatur von sich und lehnte sich zurück. »Aber du bist doch sicher nicht gekommen, um mir einen Vortrag über die richtige Bedienung unseres Klinikcomputerprogramms zu halten.«
»Gott bewahre!« Oskar hob beide Hände hoch. »Da musst du schon Janni fragen.«
»Erst, wenn du mir erzählst, wo du die vergangenen beiden Nächte gesteckt hast«, platzte Dr. Norden heraus und wartete auf ein gestammeltes Geständnis, ein verlegenes Hüsteln, irgendein Anzeichen von Reue. Doch alles, was er entdeckte, war das Blitzen in Oskars Augen.
»Du denkst sicher, dass ich bei Hannah war. Genauso, wie du die Nacht mit dieser Schönheitschirurgin verbracht hast. Wie heißt sie doch gleich? Pauling?«
»Paulsen. Aber du glaubst doch nicht im Ernst …«
»Du etwa?«
Die beiden Männer saßen sich gegenüber und sahen sich an, ehe sie gleichzeitig loslachten.
»Nein, natürlich nicht.« Oskar zog ein Stofftaschentuch aus der Hose und wischte sich über die Stirn. Er betrachtete es einen Moment lang versonnen, ehe er es zurück in die Tasche steckte. »Danny und Tatjana waren so freundlich und haben mir Unterschlupf gewährt.«
»Sieh mal einer an. Ich wusste gar nicht, dass ihr Verbündete seid.«
»Sie kennen Lenni.« Mehr musste Oskar nicht sagen. »Aber was ist mit dir? Und was sind das für Geschichten, die in der Klinik die Runde machen?«
»Muss ich dir das wirklich erklären?«
Daniels Reaktion war Antwort genug.
»Dann hatte ich also recht, dass ich dem feinen Herrn Lammers die Meinung gegeigt habe.« Oskar nickte zufrieden. »Stell dir vor, er geht doch tatsächlich mit diesem Foto in der Klinik hausieren. Dabei bist du darauf noch nicht einmal besonders gut getroffen.«
Daniel Norden lachte.
»Das war wohl auch nicht seine Absicht.« Er sah verstohlen auf die Uhr. Wie immer waren seine Termine dicht gedrängt. »Jetzt würde ich aber doch gern wissen, wie es mit dir und Lenni weitergeht.« Die Falten um seine Augen glätteten sich. »Willst du uns wirklich alle verlassen? Um mit dieser Hannah …«
»Wo denkst du hin!«, entfuhr es Oskar. »Diese Frau hat Ansprüche, sage ich dir. Da ist Lenni ja ein Waisenkind dagegen. Wenn sie nur ein bisschen netter zu mir wäre …«
»Ich bin sicher, die Bedenkzeit hat ihr gut getan.« Daniel erhob sich und ging um den Schreibtisch herum. Zeit für seine Besprechung mit der Hygiene-Kommission, deren Vorsitzender er war.
Oskar folgte ihm.
»Das wollte ich von dir hören«, brummte er. »Dann werde ich mich später mal in die Höhle des Löwen wagen. Aber vorher greife ich Anneka ein bisschen unter die Arme. Das Mädchen hat alle Hände voll zu tun im Kiosk.« An der Tür angekommen, umarmten sich die beiden Männer kurz, ehe jeder zufrieden seiner Wege ging.
Nur Andrea Sander blieb allein im Vorzimmer zurück. Entstellt, unglücklich und voller Angst vor dem, was sie noch erwartete.
*
Arbeit hatte Andrea Sander schon immer geholfen, sich von Sorgen und Problemen abzulenken. Auch diesmal stürzte sie sich auf Unterschriftenmappen und Akten, schrieb Briefe, vereinbarte Termine und stellte die Teilnehmerliste für einen geplanten Vortrag ihres Chefs zusammen. Dazwischen erledigte sie die Post, die der Bote vorbeigebracht