Jetzt, viele Jahre später, bewies sich, wie sehr Lenni das praktische Geschenk von damals schätzte. Der Becher hatte mehrere Umzüge und zahllose Runden im Geschirrspüler überstanden. Trotzdem war das Dekor noch gut zu erkennen, auch wenn sonst vieles anders geworden war. Fees Blick kehrte zurück zu ihrer ehemaligen Haushälterin. Mit aller Macht versuchte Lenni, ihre Trauer zu verstecken. Doch Fee konnte sie nicht so leicht etwas vormachen.
»Oskar hat sich nicht bei Ihnen gemeldet?«
»Der kann von mir aus bleiben, wo der Pfeffer wächst.« Ihre Miene strafte Lenni Lügen. »Soll er sich doch eine Jüngere suchen. Eine mit weniger Falten und strafferer Haut.«
Felicitas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Allzu oft schoben Frauen den Männern die Schuld in die Schuhe. Dabei gehörten immer zwei dazu.
»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Oskar ein Mann ist, der viel Wert auf Äußerlichkeiten legt.«
»Wollen Sie damit sagen, ich bin hässlich?«
Fee rollte mit den Augen. Sie hätte es wissen müssen.
»Aber nein, so habe ich das doch nicht gemeint. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich ist Oskar nur deshalb bei Ihnen geblieben, weil er sie so attraktiv findet«, platzte sie heraus. »An Ihrem Liebreiz kann es nämlich nicht liegen.«
Wie erstarrt lag Lenni im Bett. Es war nicht das erste Mal, dass ihre ehemalige Chefin Klartext mit ihr redete. Aber nie zuvor war sie in so einer Situation gewesen. Hilflos, wehrlos, ausgeliefert. Im Normalfall wäre sie jetzt beleidigt aus dem Zimmer gestampft.
Da das nicht möglich war, begnügte sie sich damit, die Lippen aufeinanderzupressen und den Kopf wegzudrehen.
»Wenn Sie wollen, dass er zu Ihnen zurückkommt, müssen Sie sich schon etwas einfallen lassen«, fuhr Fee fort.
»In solchen Sachen kenne ich mich nicht aus«, murrte Lenni. »Wie überzeugt man einen Mann denn davon, dass er nichts Besseres findet?«
Um ein Haar hätte Felicitas laut herausgelacht. Lennis Selbstbewusstsein musste man haben. Doch an diesem Tag hatte es beileibe genug Kritik gehagelt. Außerdem hatte sie eine Idee, womit Lenni ihrem Oskar ihre Liebe beweisen konnte. Sie beugte sich vor und flüsterte ihrer Patientin etwas ins Ohr.
Angewidert verzog Lenni das Gesicht.
»Sind Sie sicher? Muss das sein?«
»Mit diesem Opfer überzeugen Sie ihn bestimmt.«
»Na gut. Ich denke darüber nach. Und jetzt raus mit Ihnen! Ich bin müde und will schlafen.«
Fee war nicht beleidigt. Ein Blick auf die Uhr hatte sie wieder an Emil Steinhilber und seinen Enkel Julius erinnert.
Mit diesem Problem musste sie sich auch noch auseinandersetzen, und seufzend machte sie sich auf den Weg.
*
Inzwischen war es vollkommen dunkel. Auf dem Klinikgelände verteilte Laternen erhellten das Gebäude. Noch bevor Daniel Norden sie sehen konnte, wusste er, dass wie immer Raucher vor den Türen standen. Einer der Patienten trug einen Jogginganzug, der bestimmt nicht in der Absicht gekauft worden war, jemals Sport darin zu betreiben. Eine Frau saß im Rollstuhl, den Infusionsständer neben sich. Der dritte im Bunde musste ein später Besucher sein, wie Daniel aus seiner Kleidung schloss. Der Klinikchef überlegte kurz und wählte dann den Eingang der Notaufnahme. Er ließ zwei Rettungssanitätern den Vortritt, die einen Mann mit wirrem Haar aus dem Wagen geladen hatten, und folgte ihnen ein Stück, ehe er nach rechts abbog.
»Matthias, genau dich suche ich!«
Dr. Weigand saß am Schreibtisch und blätterte in einer Fachzeitschrift.
»Je später der Abend, umso schöner die Gäste.« Er zwinkerte Daniel zu.
»Ich wusste gar nicht, dass du nur wegen meines Aussehens mit mir befreundet bist.«
Matthias Weigand legte den Kopf schief. Eine steile Falte teilte seine Augenbrauen.
»Jetzt, wo du es sagst … aua!« Er rieb sich den schmerzenden Oberarm, dort, wo Daniels Fausthieb ihn getroffen hatte.
»Als Strafe für deine Oberflächlichkeit musst du dir das hier ansehen.« Dr. Norden legte die Unterlagen auf den Tisch, die ihm Mia Paulsen als Entschuldigung für den unfreiwilligen Kuss überlassen hatte. »Ich muss wissen, das du davon hältst.«
Um diese Uhrzeit war jeder Zeitvertreib recht. Matthias zog die Mappe zu sich und schlug sie auf. Während er sich in die Materie vertiefte, trat Daniel ans Fenster. Beim Umbau der Klinik war ein kleiner Innenhof entstanden, den die frühere Chefin Dr. Jenny Behnisch mit der Skulptur eines hiesigen Künstlers geschmückt hatte. Bis auf den heutigen Tag war sich Daniel nicht sicher, was der Bildhauer sich bei seiner Schöpfung gedacht hatte, und rätselte immer wieder gern über deren Sinn nach. Doch diesmal wurde sein Blick abgelenkt von zwei Gestalten, die im Trakt gegenüber am Fenster standen und die Köpfe zusammensteckten. Das wäre nicht weiter interessant gewesen, hätte es sich bei den beiden nicht ausgerechnet um den Kollegen Lammers und Schwester Josefa gehandelt, auch bekannt als ein Teil der Lästerschwestern. Das konnte nur Ärger bedeuten. Daniel Norden drehte sich zu dem Notarzt um. Er war zu einem ersten Schluss gelangt.
»Bei der Unterspritzung mit Fillern handelt es sich um einen Eingriff, bei dem kleinste Verletzungen gesetzt werden. Zudem wird fremdes Material ins Gewebe eingebracht. Darauf reagiert das körpereigene Immunsystem mit der klassischen Abwehr. Ist die Immunabwehr, aus welchen Gründen auch immer, gestört, sind solche Reaktionen wie bei Frau Sander zu befürchten.« Er sah zu seinem Freund und Kollegen hoch. »Mit einer gründlichen Voruntersuchung hätte diese Reaktion verhindert werden können.«
»Laut der Kollegin Paulsen hat Frau Sander mit keinem Wort erwähnt, dass sie irgendwelche Beschwerden hat.«
»Wurde sie denn überhaupt befragt? Oder ging es den lieben Kollegen von der plastischen Chirurgie mal wieder nur um das schnelle Geld?«
Daniel dachte an Mias Aufzählung. Schnelle Autos, schicke Wohnungen, teure Kleider. Er schnitt eine Grimasse.
»Andreas Behandlungskosten decken wahrscheinlich noch nicht einmal die Kosten eines Abendessens, das Frau Paulsen für gewöhnlich zu sich nimmt.«
»Kleinvieh macht auch Mist. Vielleicht hat es für eine Brotzeit gereicht.«
Lachend schüttelte Daniel den Kopf.
»Eine Frau wie Mia Paulsen weiß vermutlich gar nicht, was dieses Wort bedeutet.«
»Oh. So exquisit?«
»Mehr als das.« Langsam wurde Dr. Norden wieder ernst. »Aber bevor ich dir mehr verrate, möchte ich gern wissen, was du von einem operativen Eingriff hältst.«
Dr. Weigand wiegte den Kopf.
»Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen. Da die Ursache für den Abszess nicht hundertprozentig feststeht, bleibt ein Risiko.« Er klappte die Mappe zu und gab sie seinem Freund zurück.
»Wie bei jeder Operation.«
»Stimmt. Allerdings handelt es sich hier nicht um einen lebensnotwendigen Eingriff. Deshalb würde ich davon abraten.« Matthias rutschte von der Tischkante und suchte in seinen Kitteltaschen nach Kleingeld. Zeit, den Blutzuckerspiegel wieder auf ein ordentliches Niveau zu bringen. »Hast du ein paar Münzen für den Snackautomaten? Ich brauche unbedingt einen Schokoriegel.«
»Du lenkst vom Thema ab.« Daniel zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche und zählte ihm ein paar Münzen in die Hand. »Wenn das Risiko halbwegs vertretbar ist, sollten wir Andrea helfen.«
Seite an Seite verließen die beiden Ärzte den Raum und wanderten den menschenleeren Flur hinab.
»Wenn ich dein Chef wäre, würde ich den Eingriff nicht befürworten.«
Ein Fluch wurde von