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Den Rest des Vormittags wurde Andrea Sander durch sämtliche Untersuchungen geschleust, die für die Vorbereitung auf die Operation wichtig waren.
»So, jetzt dauert es nicht mehr lange«, versprach Schwester Elena und legte die Sonnenbrille in die Nachttischschublade. »Die brauchen Sie ja jetzt nicht mehr. Ich komme in ein paar Minuten wieder und bringe Sie in den OP.«
Andrea rang sich ein Lächeln ab.
»Vielen Dank.«
»Nichts zu danken. Das ist mein Job.« Elena zwinkerte der Kollegin zu und verließ das Zimmer.
Andrea legte sich zurück in die Kissen und hing ihren Gedanken nach. Fragen über Fragen türmten sich wie ein Gebirge vor ihr auf. Jetzt verstand sie sich selbst nicht mehr. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Warum hatte sie sich nicht im Vorfeld besser über die Risiken informiert? Was, wenn Dr. Norden ihr nicht helfen konnte? Eine einsame Träne rann über ihre Wange. Genauso einsam würde sie in Zukunft sein.
»Hallo?«
Clemens’ Stimme riss Andrea aus ihren Gedanken. Ausgerechnet er! Konnte es noch schlimmer kommen?
»Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber Schwester Elena sagte mir, dass Sie gleich operiert werden. Da musste ich doch vorbeischauen und Ihnen viel Glück wünschen.« Seine Stimme war so weich wie sein Blick. Er beugte sich ein Stück weiter vor. »Wenn Sie mich fragen, sehen die Stiche gar nicht mehr sooo schlimm aus.
Die Brille! Wo hatte Elena die Brille nur verstaut. Andrea war so aufgeregt, dass sie sich nicht erinnern konnte.
Clemens war mindestens genauso erschrocken wie sie.
»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Ganz im Gegenteil.«
»Schon gut.« Sie sank in die Kissen zurück. »Dann soll es jetzt wohl so sein.«
Clemens Krempling stand am Fußende. Halt suchend legte er die Hände auf den Chrombügel.
»Wie meinen Sie das?«
»Das … das waren keine Wespen, die mich so verunstaltet haben, sondern eine Schönheitschirurgin.«
»Was haben Sie denn bei einer Schönheitschirurgin verloren?«, fragte Clemens so spontan, dass sich Andrea nur noch mehr schämte. »Sie sind doch so eine attraktive Frau.«
Am liebsten hätte Andrea aufgeheult. »Komisch nur, dass Sie das vorher nicht bemerkt haben.«
Warum lächelte er den jetzt? Und warum nur erinnerte er sie plötzlich an einen Lausbuben, der die letzten Gummibärchen aus dem Küchenschrank geklaut hatte?
»Was macht Sie da so sicher?«, fragte er in ihre Gedanken hinein.
»Na ja … ich … Sie …«
»Ich bin mindestens genauso schüchtern wie Sie«, unterbrach Clemens sie. »Haben Sie sich denn nie darüber gewundert, dass ich jede Akte persönlich bei Ihnen abgeliefert habe?«
Andreas Augen wurden kugelrund.
»Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht in Ohnmacht zu fallen«, platzte sie heraus und stimmte in sein Lachen mit ein.
Dieses erste gemeinsame Lachen war der Wendepunkt in ihrer Beziehung. Clemens kam um das Bett herum, setzte sich auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand.
»Nachdem du so offen zu mir warst, kann ich dir auch mein Geheimnis verraten.«
Andrea spürte, wie ihre Hand schwitzte. Hoffentlich stört es ihn nicht!, ging es ihr durch den Sinn, bis sie merkte, dass es ihm genauso erging.
»Jetzt erzähl’ mir bloß nicht, dass du seit 25 Jahren glücklich verheiratet bist.«
»Nein.« Clemens schüttelte den Kopf. »Dann würde ich mir sicher nicht die Haare färben, um der Frau meines Herzens zu gefallen.« Er senkte den Blick. Doch die roten Flecken auf seinen Wangen verrieten ihn.
»Du bist gar nicht braunhaarig?«
»Mehr grau«, verriet er.
»Wunderbar. Ich liebe silber.«
In diesem Moment gab es keine Fragen mehr. Ihre Blicke versanken ineinander. Wie magisch angezogen wollte Clemens sich über sie beugen und sie küssen. Ausgerechnet in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Abrupt blieb Dr. Norden stehen.
»Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht …«
»Schon gut, Chef.« Andrea winkte Daniel ans Bett. »Gut, dass Sie kommen. Ich habe da eine Frage.«
»Nur zu! Ich bin gespannt, ob ich sie beantworten kann.«
»Sie sagten, es bestünde die Möglichkeit, diese Entzündung auch ohne Operation in den Griff zu bekommen.« Andreas Blick huschte hinüber zu Clemens. Sein in die Höhe gereckter Daumen machte ihr Mut.
»Das ist richtig.« Daniel nickte. »Neben entzündungshemmenden Präparaten und einer Therapie zur Stärkung des Immunsystems gibt es auch ein antibakterielles Makeup, das den Heilungsprozess beschleunigen kann«, teilte er ihr das Ergebnis seiner Recherchen mit. »Mit viel Geduld sind Sie in ein paar Wochen wieder ganz die Alte.«
»Und mit viel Liebe geht es vielleicht ein bisschen schneller«, ergänzte Clemens, ehe er seinen Plan in die Tat umsetzte und Andrea vor den Augen ihres Chefs küsste. Das Versteckspiel war ein für alle Mal vorbei.
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»Er ist wirklich wieder aufgewacht!« Emil Steinhilber stand am Bett seines Enkels und verfolgte die Bemühungen der Ärztin mit tränenverschleiertem Blick.
»Klar bin ich wieder aufgewacht«, krächzte Julius. »Was hast du denn gedacht?« Er zwinkerte Fee Norden zu, die seine Hand mit einem Hämmerchen bearbeitete.
»Die moderne Medizin macht Fortschritte«, erklärte sie lächelnd und griff nach Julius’ Fingern. »Drückst du bitte ein Mal so fest du kannst?«
»Nicht, dass Sie sich hinterher beschweren.«
»Auf keinen Fall. Ich schwöre!« Fee reckte drei Finger der rechten Hand in die Luft.
Volker Lammers, der neben ihr stand, schüttelte stumm den Kopf. Was für ein Affentheater!
Julius aber lachte und drückte zu. Emil Steinhilber bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er sprang vom Stuhl auf.
»Was ist los? Ist die Operation misslungen?«
Felicitas war selbst erschrocken. Sie hatte nicht den kleinsten Druck gespürt. Die Schützenhilfe kam aus unerwarteter Richtung.
»Die Operation ist lehrbuchmäßig verlaufen.«
Überrascht drehte sie sich zu ihrem Stellvertreter um. Volker hatte sein Pokerface aufgesetzt.
»Oh!«
»Warum wundert Sie das?«, fragte er. »Immerhin war ich ja dabei. Da kann gar nichts schief gehen.«
»Und ich dachte schon …«
»Das Denken sollten Sie den Männern überlassen.«
Kopfschüttelnd drehte sich Felicitas wieder zu Julius um. Vielleicht würde ihr irgendwann ein Mittel einfallen, um Volker Lammers’ harte Schale zu knacken und den weichen Kern zu finden, den er zweifellos hatte. Sicher war sie aber nicht und konzentrierte sich lieber wieder auf ihren Patienten.
»Du darfst nicht verkrampfen, Julius. Denk einfach an einen besonders schwierigen Sprung mit deinem Scooter. Wenn du den Lenker richtig fest in die Hände nehmen musst … ja, genauso!«, jubelte sie, als sie den Druck spürte. Verhalten und kraftlos zwar, aber immerhin. »Das hast du großartig gemacht.«
Emil Steinhilber atmete auf und sank zurück auf den Stuhl. Julius stieß die gesunde Faust in die Luft.
»Yeah,