Zur Bezeichnung des lateinamerikanischen Populismus
4Begriffsgeschichte: der Populismus als demokratische Form
Strukturelle Aporie (I): das unauffindbare Volk
Strukturelle Aporie (II): die Zweideutigkeiten der Repräsentativdemokratie
Strukturelle Aporie (III): die Wandlungen der Unpersönlichkeit
Strukturelle Aporie (IV): die Definition des Gleichheitsregimes
Grenzfälle der Demokratie: die drei Familien
Die Auflösung des Verantwortungsbegriffs
Entscheiden heißt nicht wollen
Die Vernachlässigung des Beratens
Das Schweigen über die normative Geltung der Referenden
Die paradoxe Enteignung der Demokratie durch das Referendum
Den demokratischen Erwartungen entsprechen, die der Referendumsidee zugrunde liegen
2Polarisierte Demokratie versus potenzierte Demokratie
Demokratische Fiktion und Horizont der Einstimmigkeit
Die neuen Ausdrucksformen des Gemeinwillens
Demokratische und nicht bloß liberale Institutionen
3Von einem imaginären Volk zu einer demokratischen Gesellschaft im Aufbau
Von der imaginären zur realen Gesellschaft
Populistisches Volk und demokratische Gesellschaft
4Der Horizont der Demokratur: die Frage der Unumkehrbarkeit
Philosophie und Politik der Unumkehrbarkeit
Polarisierung und Politisierung der Institutionen
Epistemologie und Moral der verallgemeinerten Politisierung
SCHLUSSDER GEIST EINER ALTERNATIVE
Geschichte des Wortes »Populismus«
EINLEITUNG
DEN POPULISMUS DENKEN
Der Populismus revolutioniert die Politik des 21. Jahrhunderts. Doch das wahre Ausmaß der von ihm bewirkten Umwälzung haben wir noch nicht erfasst. Das Wort mag allgegenwärtig sein, die Theorie des Phänomens hingegen findet sich nirgendwo. In ihm verbindet sich ein Gefühl intuitiver Selbstverständlichkeit mit einer Form von Unbestimmtheit. Davon zeugt in erster Linie das semantische Changieren, das seinen Gebrauch charakterisiert. Denn es handelt sich zweifellos um einen sehr dehnbaren Begriff, seiner chaotischen Verwendung nach zu urteilen. Auch einen paradoxen Begriff, denn er hat zumeist eine abwertende und negative Konnotation, während er sich von dem ableitet, was im positiven Sinne das demokratische Leben begründet. Es ist ferner ein projektiver Begriff, denn er versieht mit einem einzigen Label eine ganze Reihe politischer Umbrüche der Jetztzeit, die es in ihrer Komplexität und ihren tieferen Ursachen zu erfassen gälte. Ist es beispielsweise sachdienlich, den gleichen Ausdruck zu verwenden, um Chávez’ Venezuela, Orbáns Ungarn oder Dutertes Philippinen zu bezeichnen, ganz zu schweigen von einer Figur wie Trump? Macht es Sinn, die Spanier von Podemos und La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon mit den Kumpanen von Marine Le Pen, Matteo Salvini oder Nigel Farage in einen Topf zu werfen? Verstehen heißt nämlich, zu unterscheiden und folglich vereinfachenden Gleichsetzungen zu widerstehen. Schließlich ist Populismus ein zweifelhafter Begriff, denn er dient häufig nur dazu, Gegner zu stigmatisieren oder unter neuem Namen den alten Überlegenheitsanspruch der Mächtigen und Gebildeten gegenüber den unteren Schichten zu legitimieren, denen stets unterstellt wird, sich in einen von seinen dunklen Trieben beherrschten Pöbel verwandeln zu wollen. Man kann die Frage des Populismus nicht erörtern, ohne diesen Befund im Kopf zu behalten, denn er stellt eine Art Warnung dar, sowie eine Aufforderung, bei der Behandlung des Themas politischen Scharfblick und geistige Strenge walten zu lassen.
Diese Notwendigkeit, auf die Fallstricke zu achten, die der Begriff »Populismus« bereithält, darf allerdings nicht dazu führen, ganz