Coyote. Jens-Uwe Sommerschuh. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens-Uwe Sommerschuh
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943857047
Скачать книгу
war. Man kriegte ihn nicht wieder los, und nur im Ausnahmefall kam man mit dem Leben davon. Der Pestbote war uns also dicht auf den Fersen, aber ich würde ihm ein Schnippchen schlagen. Fehlte nur noch eine Idee. Irgendwohin gehen, wo die Seuche nicht hingelangen konnte. San Francisco war kein guter Ort mehr. Wo gab es noch gute Orte? In Mexiko? In Filmen tauchten Leute wie ich in Mexiko unter. Die Aufenthaltsgenehmigung in meinem aktuellen Pass lief sowieso bald ab. Wenn ich über die Grenze ginge, hätte ich ein Vierteljahr Ruhe. Ein Visum für drei Monate rückten die Mexikaner fast immer raus, hatte mir Johann erzählt. Mir war nur schleierhaft, wie ich Vickie dazu bewegen sollte, ihrem San Francisco schon wieder den Rücken zu kehren. Leider hatte sie ein gestörtes Verhältnis zum Umgang mit akuter Gefahr. Aus Venedig abzuhauen, war sie bereit gewesen, weil sie San Francisco schöner fand. Und wenn ich ohne sie verschwand?

      Es war das erste Mal, dass ich daran dachte, und wenn ich ehrlich war, konnte ich das auch sofort wieder vergessen. Nicht nur, weil wir durch den Coup und die Beute aneinanderklebten. All unsere Zerwürfnisse, mein oder ihr Wegrennen waren Teil des launischen Spiels gewesen, das Mann und Frau manchmal spielten, und wir hatten im Stillen immer gewusst, dass der andere einlenken würde. Wir hatten auf unsere Weise ein Gleichgewicht gefunden, das stabil war und nur stabil bleiben würde, wenn keiner von der Wippe sprang. Vickie würde mich noch im letzten Kaff dieser Welt aufspüren. Um Vickie loszuwerden, müsste ich sie töten.

      Ich lauschte dem Klang dieses Gedankens nach.

      Das denkt sich so dahin: Ich könnte dich umbringen.

      Ich staunte, was ein Gehirn im Stress zu denken bereit ist. Absurd, denn sie würde mir fehlen. Die anderthalb Jahre mit ihr waren die längste Strecke, die ich je mit einer Frau gegangen war. Es war nicht die schönste, die lag weiter zurück, aber …

      Im Spiegel sah ich, dass die Stoppeln mein Gesicht bereits beträchtlich verdunkelten. Aber ich würde jetzt zu keinem Schönheitswettbewerb gehen. Ich würde mir bei Linnet keinen Korb holen. Ich musste nur fest daran glauben.

      Über dem Waschbecken verbrannte ich die Schriftstücke und spülte die Asche weg. Dann begab ich mich in die Spur.

      13

      Als ich wieder auf dem Dach war und in die frühe Abendsonne blinzelte, fühlte ich mich um Längen besser. Ich winkte dem lieben Gott zu für den Fall, dass er mich belauscht hatte.

      »Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte«, sagte ich laut. »Matthäus fünf fünfundvierzig«. Was der Evangelist an der Stelle noch gesagt hatte, ließ ich lieber stecken: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen. Das nun nicht. Niemand war vollkommen, ich machte da keine Ausnahme. Meine Feinde sollte der Teufel holen.

      Ich spähte über die Dachkante auf die Stockton Street hinunter, aber ob Signore Morbo oder sonst wer mir auf dieser chinesischen Ameisenstraße auflauerte, war von hier oben nicht auszumachen. Ich kletterte auf das Nachbardach. Die Pacific Street lag ruhiger. Beim Abstieg musste ich die letzten drei Meter springen. Eine chinesische Omi, so winzig wie alt, der ich vor die Füße fiel, riss den Mund auf.

      »Vom Himmel hoch, da komm ich her«, sagte ich, schnitt eine Rambo-Grimasse und klopfte mir den Staub von den Knien. Gloßmüttelchen verstand mich nicht und sah zu, dass es um die Ecke kam.

      Niemand schien sich für mich zu interessieren, keine Sonnenbrille weit und breit. Ich passierte eine Sackgasse, eine Ampelkreuzung, grün, dann die Beckett Street, zwei Sekunden Warten auf Godot, noch hundert Schritte, hoffentlich hatte ich Linnet nicht verpasst.

      Die Brewing Company war gestopft voll. Die Leute nahmen die letzten zehn Minuten der Happy Hour kampferprobt mit. Wer jetzt seinen Pegel noch nicht hatte, würde in Kürze das Doppelte zahlen müssen, ihn zu erreichen. Echte Biertrinker sind nur selten so blöd, wie manche Abstinenzler aussehen. »Na, ein Alcatraz?«, wisperte eine fröhliche Stimme hinter meinem Rücken. Ich fuhr herum.

      »Hey, kannst du Gedanken lesen?«, fragte ich.

      Sie hielt vor dem Bauch ein Tablett, auf dem sich Pintgläser voller Bier in allen Bierfarben drängten, schwarzer, roter, gelber Bruder, gib uns die Hand, die Palette war schwer, und die Gemeinde wartete, während Linnet mich hier, mitten im Akkordtrinken, nach meinen Wünschen fragte. Ich war gerührt.

      »Na ja, das ist nun mal kein Milchladen«, kicherte sie. Woher nahm sie am Ende ihrer Schicht diese blendende Laune?

      Mit Schwung verfrachtete sie das Tablett auf den nächsten Tisch und reichte mir ein Alcatraz.

      »Mönsch«, maulte einer, der leer ausging, »der ist doch grad erst gekommen.«

      »Genau«, sagte Linnet leichthin, »das ist der kleine Unterschied. Die einen kommen grad, und die andern sind immer schon da.«

      Ich trank im Stehen. Aus den Boxen drang Chris Isaaks Things go wrong, und vorn am Piano, gleich neben dem Eingang, packten zwei ältere schwarze Musiker ihre Instrumente aus, Saxofon und Kontrabass, während der Dritte, ein Weißer, mit langem Finger auf dem Klavierdeckel Staub wischte, wahrscheinlich der Pianist. Es war hier üblich, dass sich gegen Abend Musiker einstellten und irgendwann loslegten. Nie wurde Eintritt genommen. Stattdessen ging ab und zu jemand mit dem Hut rum, und vornehmere Bands stellten einen Pitcher aufs Klavier, einen Bierkrug, in den jeder, der ging, seine diamantenbesetzte Uhr, Microsoft-Aktien, einen Hunni oder eine Münze werfen konnte. Die meisten gaben nichts, denn sie hatten die Musik ja nicht bestellt, aber ich hatte Pianisten erlebt, die sich trotzdem bedankten, vielleicht fürs Gehen. Der Obolus der Kneipe bestand aus Freigetränken, ein guter Grund für clevere Musiker, schon lange vor dem Gig aufzukreuzen.

      Forever blue, sang Mr. Isaak, die Tresenuhr zeigte halb sieben, draußen in der Columbus Avenue hatte das späte Nachmittagslicht sich milchig eingetrübt. Der Nebel kam.

      Plötzlich stand Linnet erneut vor mir. Sie hatte das schwarze T-Shirt unter ihrer Latzhose gegen was Helleres und Zarteres getauscht.

      »Goodbye und Amen«, sagte sie, »ich mach mich vom Acker.«

      Ich grinste doof. Wenn ich jetzt nicht achtgab, würde dieses Grinsen für immer bleiben, und ich würde als Vertreter für Rührgeräte enden.

      »Schon was vor«, krächzte ich, und es gelang mir nicht mal, das wie eine Frage klingen zu lassen.

      »Mhm«, machte sie, »Johnny Depps Einladung zum Abendessen habe ich ausgeschlagen, weil ich zu Bill Gates nach Sausalito rüber will. Seine Maus ist krank. Mein Verlobter ist allerdings dagegen. Der meint, das mit der Maus sei eine Finte, es könne sein, Bill Gates wolle mir an die Software, und ich solle mich nicht unnötig in Gefahr begeben. Drum habe ich beschlossen … Äh, hast du nicht eine Idee?«

      Zehn Minuten später fuhren wir in Linnets kleinem blauen Mercury an der Bay entlang, die jetzt in dickem Nebel lag. Wir kamen nur langsam voran, und das war auch nicht schlimm, denn wir wollten nicht heim zur Serie, unser Film würde auf uns warten, und wer die Hauptrolle hatte, würde sich zeigen. Ich kannte das Drehbuch nicht.

      Sie hatte Otis Redding eingelegt, Sittin’ on the Dock of the Bay, und wir schwiegen dazu. Das Ende des Liedes pfiff sie leise mit. Ich zog den Chronicle aus der Jacke. Angesichts dieser Waschküche würden wir kaum Stunden auf der Golden Gate Bridge verbringen, aber mit ein wenig Glück fand sich der definitive Konzerttipp. Ich schlug die Zeitung auf und hatte wieder die Seite von heute Mittag vor mir. Der Name sprang mir entgegen, noch bevor ich ihn las. Manchmal wusste ich auf den ersten Blick, dass in all dem Kleingedruckten etwas Bekanntes verborgen war, ein vertrauter Begriff oder ein Name, der mir etwas bedeutete, ich brauchte nur noch zu suchen.

      »Edith Jeanne LaFleur«, sagte ich halblaut, mehr so für mich, um dem Klang nachzulauschen und der Botschaft, die der Name zu bergen schien. Ich hatte den Nachnamen dieser alten Dame schon mal gesehen, ich war mir da plötzlich ganz sicher. Ja, gesehen. Und mir war, als wäre das schon lange her.

      Linnet sah rüber, ihr Blick war hellwach.

      »Kennst du Edith Jeanne LaFleur?«, fragte ich sie.

      »Ja«, erwiderte sie zögernd, »klar.