»Mehr steht da nicht?« In Linnets Stimme kratzte ungläubiges Staunen.
Sie bremste spät, die Rücklichter vor uns starrten uns groß und rot an. Hinter uns hatte es auch gequietscht. Wir standen, und wenn das der Rückstau von der Brücke war, die noch gut anderthalb Meilen entfernt sein musste, konnte es dauern.
»Sie taucht nur in den Spalten mit den Kurznachrufen auf. Nicht mehr als drei Zeilen. Immer ein sehr schönes Lächeln, trotz eines turbulenten Lebens bis ins hohe Alter. Morgen wird sie beigesetzt. Keine Geschichte ansonsten.«
»Soviel ich weiß, stammte sie aus Europa, aus Frankreich wohl, und ihr Mann hatte vor Jahrzehnten Millionen gemacht, ich glaube, aus Spekulationen mit Baugrundstücken, auf denen dann Öl angebaut und nach Baumwolle gebohrt wurde oder so. Ist auch egal.« Linnet wiegte den Kopf, als wolle sie die Erinnerung zurechtschaukeln. »Jedenfalls saß sie, nachdem der Mann in den Siebzigerjahren gestorben war, auf einem Riesenhaufen Geld. Sie soll Anfang der Achtziger noch einiges in eine Computerfirma unten in San Jose gesteckt haben, und Geld in dieser Branche heckt wie die Mäuse. Aber wo es Mäuse gibt, sind oft die Katzen nicht weit, die Raubkatzen, um genau zu sein. Letztes Jahr im Sommer überraschte Mrs. LaFleur einen Einbrecher, der sich an ihrem Safe zu schaffen machte, und ging mit dem Krückstock auf ihn los. Der Stock stammte von ihrem Mann, der seit dem Krieg ein Holzbein gehabt hatte. Er war mitsamt Holzbein bestattet worden, den Stock aber hatte die Witwe LaFleur behalten, sicher in der Annahme, dass es im Himmel viel schönere Krücken gibt, und sie tat gut daran. Der Einbrecher schoss auf sie, traf sie aber wohl nicht richtig. Sie fand noch Kraft und Muße, ihm den Schädel einzuschlagen, sie erwischte ihn mit dem Metallknauf an der Schläfe. Zack und knacks, ein Gangster weniger. Der muss sie völlig unterschätzt haben, denn es stellte sich heraus, dass er ein Auftragskiller war, der offenbar über das Honorar hinaus auf eigene Rechnung einsacken wollte. Komische Profis gibt’s. Kurios war auch, dass die Haushälterin von Mrs. LaFleur, die an dem Abend frei hatte, nicht wiederkam. Und genauso verschwunden blieb der Schmuck der alten Dame, der im Safe gelegen hatte. Hinter der ganzen verzwickten Geschichte, die in ihren Einzelheiten nie aufgeklärt wurde, soll ihr Sohn gesteckt haben, der nicht länger aufs Erbe warten wollte. Er hat bis zuletzt geleugnet, aber die Indizien reichten offenbar. Jetzt sitzt er in San Quentin. Die alte Mrs. LaFleur, die relativ rasch von der Verletzung genas, war kurioserweiser von seiner Unschuld überzeugt und hat ihn nicht enterbt. Wenn der mit achtzig oder so rauskommen sollte, ist er einer der reichsten Ex-Sträflinge der Vereinigten Staaten.«
»Du spinnst«, sagte ich, »das hast du dir eben ausgedacht.«
Hinter uns hupte es. Die roten Lichter vor uns waren weg. Sie schob den Knüppel der Automatik auf Drive und gab Gas. Mit auf- und abschwellendem Summen suchte sich das Getriebe seine Gänge.
»Nein«, versetzte sie, überhaupt nicht gekränkt, »so war es, ungefähr so, okay, ich hab’s ein bisschen ausgeschmückt. Wieso ist dir die Sache wichtig?«
Das wusste ich selber nicht genau.
Kurz bevor wir die Brücke erreichten, senkte sich der Nebel, und für einen Augenblick kamen zwei rötliche Titanenleitern in Sicht, die aus der weißen Watte in den Himmel zu führen schienen, gehalten von zarten, ins Nichts schwingenden Seilen.
Der Verkehr floss jetzt zügig. Nordwärts erhoben sie keinen Brückenzoll, sodass wir nicht stoppen mussten. Außerdem hatten sie in unserer Richtung eine vierte Fahrbahn freigegeben, während sich die Wagen stadteinwärts durch die verbliebenen zwei Spuren drängten. Vom schönsten Bauwerk der Westküste war nicht mehr viel zu sehen, die Trossen huschten vorbei, dann der erste Pfeiler, ein eiserner Klumpfuß aus diesem Blickwinkel, nach einer knappen Meile der zweite, und in kaum fünf Minuten waren wir drüben. Die Würde der Golden Gate Bridge war so nicht einmal zu ahnen gewesen. Mit Linnet hier zu sein, das hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
»Ich zeig dir meine Lieblingsstelle«, sagte Linnet. Sie bog auf einen Parkplatz ein, wir knallten die Türen zu, und dann führte sie mich Hand in Hand unter der Brücke durch. Über uns rumpelte der Verkehr, fünfzig Millionen Autos, hatte ich gehört, rollten hier jährlich drüber, mehr Wagen, als wahrscheinlich in ganz Italien zugelassen waren. Der von Stahlgeländern gesäumte Gang lag im Halbdunkel und hätte genauso gut durch den Maschinenraum eines Schiffes oder einer alten Fabrik führen können. Dann ging es ein paar Stufen hoch. Unschlüssig schaute ich mich um. Wir hatten händchenhaltend den Highway 1 unterquert, kein Grund zur Begeisterung.
»Komm«, sagte sie und zog mich zu einem Pfad, der sich im Nebel den Berg hinaufwand. Wollte ich sie nicht aus den Augen verlieren, durfte ich ihre kühle Hand nicht loslassen, sie hatte Eisfinger.
Nach schier endlosen Serpentinen erreichten wir eine Straße, und plötzlich brach Linnet in juchzende Schreie aus. Ich fragte mich, ob der Tag nicht doch zu hart für sie gewesen war, der Umgang mit so viel Bier und jetzt der steile Aufstieg. Doch dann sah ich es auch. Der Nebel lichtete sich, nahm einen gelblichen Ton an, der ins Orange changierte. Und dann riss er auf.
Der Anblick verschlug mir den Atem. Unmittelbar vor uns schwang sich in unvergleichlicher Eleganz die Brücke über den Meeresarm. Die Pfeiler leuchteten rotgolden im Abendlicht, dahinter funkelten fern die Lichter der City, und wir zwei, wir befanden uns über den Wolken.
Als ich mich verlegen umschaute, sah ich, dass wir zwischen den Resten eines alten Forts standen. Wir hockten uns auf einen meterhohen Mauerstumpf. Ein Windhauch zupfte an Linnets Haaren, na bitte, mir ging das Herz auf. Ich beugte mich rüber und tupfte ihr einen Kuss hinters Ohr, und ich musste kurz nach ihrer Schulter fassen, wegen des Gleichgewichts.
»Huch«, sagte Linnet. Ich ließ schnell wieder los.
Ich rauchte und gab mich ganz dem seligen Genuss einer unverhofften Pause hin. Mir war, als wäre ich jahrelang durch eine Wüste gegangen, nichts anderes im Sinn als die kleinen Schlucke aus dem Schlauch mit dem Wasser, und das hatte von Tag zu Tag schaler geschmeckt. Jetzt saß ich an einer munteren Quelle und brauchte mich nur vorzubeugen, falls ich Durst verspürte. Manchmal liebte ich diese Kitschfilme.
»Ich mag dich«, sagte Linnet. »Immer wenn ich dich sehe, kommt mir die gute Laune. Tu es noch einmal. Die Stelle war nicht schlecht.«
Ich tat es noch einmal, diesmal ohne mich festzuhalten.
Linnet erschauerte leicht. »Wenn das mein Verlobter sieht«, sagte sie dann. »Sex vor der Ehe!«
14
In sechs Jahrzehnten hatten sich mehr als tausend Leute von dieser Brücke in die Fluten gestürzt. Ich hatte gehört, dass die meisten mit Blick zur Stadt hinuntersprangen. Fast siebzig Meter freien Falls, bevor es vorbei war, ich konnte verstehen, dass sie zum Ende hin noch einmal Wert auf gute Aussicht legten, schließlich war es die letzte, die sie sich gönnten.
»Bist du wirklich verlobt?«
Es klang, als hätte ein Kannibale eine Vegetarierin gefragt, ob sie tatsächlich nur Grünzeug esse.
»Ja, ständig«, erwiderte Linnet, »und ich finde die Methode nicht schlecht.«
»Was für eine Methode?«
Denn je mehr Worte, desto mehr Eitelkeit; was hat der Mensch davon? Denn wer weiß, was dem Menschen nützlich ist im Leben, in seinen kurzen, eitlen Tagen, die er verbringt wie einen Schatten?
Salomo hilf, dachte ich, hilf mir, keine blöden Fragen mehr zu stellen und am besten die Klappe zu halten.
Es ist besser, zu gebrauchen, was vor Augen ist, als nach anderem zu verlangen. Das ist auch eitel und Haschen nach dem Wind.
Oh Salomo! Aber ich merkte schon, der würde mir auch nicht helfen.
»Na, erstens macht es sich gut im Umgang mit den übrigen Männern, denen es nichts schadet, wenn sie mir mit ein wenig Respekt begegnen, die aber nicht völlig das Interesse an mir verlieren, denn ich bin ja als Verlobte von Mister Unbekannt noch nicht ganz unter der Haube. Ich habe mit ziemlich vielen Männern Umgang, aber keine Lust, ständig Anträge abzuwehren oder als Schneekönigin dazustehen, die man meiden sollte,