Psychotherapie und Psychosomatik. Michael Ermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Ermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170368026
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Persönlichkeitsorganisation, wenn sie in der klinischen Diagnose enthalten ist. So braucht man bei einem Borderline-Syndrom nicht ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation handelt. Ähnliches gilt für reaktive Störungen und die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD).

      Diagnose des Strukturniveaus

      Als dritter Schritt wird das Strukturniveau angegeben. Es umfasst integrativ den Zusammenhang der zeitlichen, strukturellen und funktionellen Dimension der Persönlichkeitsorganisation (image Kap. 4.1). Dabei unterscheiden wir, wie bereits wiederholt dargestellt, zwischen dem reifen, höheren, mittleren und niederen Strukturniveau.

      • Das reife Strukturniveau kommt bei reaktiven Störungen vor und bedarf dort keiner besonderen Diagnose. Prämorbid wird auch bei posttraumatischen Störungen zumeist ein reifes (nicht belastendes) Strukturniveau angenommen, das dann nicht weiter dokumentiert wird.

      • Das höhere Strukturniveau ist die Persönlichkeitsorganisation der »klassischen« Konfliktstörungen mit umschriebener Konfliktpathologie.

      • Das mittlere Strukturniveau ist wahrscheinlich das der meisten Patienten in der psychotherapeutischen Praxis. Es bildet den Hintergrund vieler depressiver, somatoformer, narzisstischer und Angststörungen, bei denen eine Konfliktpathologie mit umgrenzten strukturellen Störungen zusammenwirkt. Dieses betrifft vor allem die Regulation des Selbst- und Selbstwertgefühls und der Affektregulation.

      • Das niedere Strukturniveau ist die am geringsten ausgereifte Persönlichkeitsorganisation. Es ist typisch für schwere Persönlichkeitsstörungen.

      Maßgeblich für die Diagnostik ist das aktuelle Strukturniveau, d. h. der Funktionszustand der letzten zwei Jahre. Kurzfristige Regressionen, die durch akute Belastungen und Krisen entstanden sind und diesen Zustand überformen, werden dabei nicht berücksichtigt.

      Abschließend wird für jede ätiologische Gruppe als Beispiel eine vollständige Diagnose nach dem zuvor dargestellten Muster wiedergegeben (image Übersicht).

      Mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD)153, die in den 1990er Jahren entstand, liegt ein standardisiertes Manual für die psychoanalytisch orientierte Diagnostik vor. Es erfasst die störungsrelevanten psychodynamischen Merkmale auf fünf Ebenen, den sog. diagnostischen Achsen. Ursprünglich wurde sie als reines diagnostisches Instrument für die Forschung entwickelt. Inzwischen ist sie zu einem Instrument der Therapieplanung und Veränderungsmessung weiterentwickelt worden und wird vor allem als Grundlage für die strukturbezogene Psychotherapie (image Kap. 17.3.4) verwendet.

      Die aktuelle Version OPD-2 hält dazu an, auf das gegenwärtige Problem des Patienten als Therapiefokus zu zentrieren und die Behandlung daran zu orientieren. Dabei wird der Unterschied zwischen Konflikt- und Entwicklungs- und Traumapathologie betont und mit der darauf aufbauenden strukturbezogenen Psychotherapie ein spezifischer Ansatz für die Behandlung grundgelegt.154 Indem Veränderungen in den diagnostischen Kategorien messbar werden, können außerdem Behandlungseffekte überprüft werden.

      Beispiele für vollständige psychodynamische Diagnosen aus der Praxis

• Beispiel 1: Reaktive Störung
Syndrom: Angststörung (ICD-10: F43.22 Angst und depressive Reaktion gemischt), multiforme Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0)
Ätiologisch: Somatopsychische Belastungsreaktion bei Kolonkarzinom
Strukturell: Höheres bis reifes Strukturniveau
• Beispiel 2: Posttraumatische Störung
Syndrom: Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), dissoziative Störung (ICD-10: F44.0, F44.5), depressive Störung (ICD-10: F32.2 schwere Episode), Zustand nach Suizidversuch (ICD-10: X60)
Ätiologisch: Komplexe posttraumatische Störung nach langdauernder sexueller Missbrauchserfahrung
Strukturell: Niederes Strukturniveau
• Beispiel 3: Strukturstörung
Syndrom: Anorexia nervosa (ICD-10: F50.0), Angststörung (ICD-10: F40.1 soziale Phobie), Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.31). DD V. a. posttraumatische Störung
Strukturell: Niederes bis mittleres Strukturniveau
• Beispiel 4: Präödipale Störung
Syndrom: Depressive Störung (ICD-10: F33.1 rezidivierende depressive Störung)
Ätiologisch: Depressiv-narzisstische Persönlichkeit, Versorgungs-Autarkie- und Autonomie-Abhägigkeits-Konflikt
Strukturell: Mittleres Strukturniveau
• Beispiel 5: Konfliktstörung
Syndrom: Alibidinie (ICD-10: F52.0 Mangel an sexuellem Verlangen), depressive Störung (ICD-10: F 32.0: leichte depressive Episode)
Ätiologisch: Zwanghafte Persönlichkeit, Schuldkonflikt bei Lösung aus dem Elternhaus
Strukturell: Mittleres bis höheres Strukturniveau
• Beispiel 6: Psychosomatose
Syndrom: Asthma bronchiale (ICD-10: F54, J45), depressive Störung (ICD-10: F34.1 Dysthymie), narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.8)
Ätiologisch: Chronische familiäre Belastungssituation
Strukturell: Niederes Strukturniveau

      Der Vorteil dieses Konzeptes besteht darin, dass die Veränderungsmessung sich tatsächlich auf die störungsrelevanten Aspekte bezieht, die den Behandlungsfokus bilden und verändert werden sollen, und nicht auf beliebige Merkmale.

      Die Diagnostik der Ausgangssituation und des Prozesses bzw. des Ergebnisses fußt auf einem klinischen OPD-Interview. In der systematischen Auswertung der Befunde werden die individuellen Merkmale – Symptome, Probleme, Beziehungsmuster, Konflikte, strukturelle Gegebenheiten usw. – den einzelnen Achsen zugewiesen (image Übersicht) und mit statistischen Normwerten verglichen. Dadurch wird das Besondere des Einzelfalls im Vergleich mit dem Durchschnitt erkennbar. Außerdem kann man aufgrund des Vergleichs zwischen Behandlungsbeginn