Diese labile psychische Organisation wird hier in Abgrenzung von der Entwicklungs- und Konfliktpathologie, als Traumapathologie bezeichnen. Allerdings besteht eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Entwicklungspathologie. Sie tritt in ähnlicher Weise auch bei Extremtraumatisierungen im Erwachsenenalter auf (
Nicht-neurotische Entwiklung, reaktive Pathologie und Schocktraumatisierung
Durch stabile Beziehungen, günstige Umgebungsbedingungen und angemessene Hilfen nimmt die Entwicklung einen ungestörten Verlauf. Sie durchläuft bei allen Menschen typische Krisen, die auch mit Ängsten und Konflikten verbunden sind. Diese stellen unausweichliche Entwicklungsaufgaben dar. Wenn sie bewältigt werden, ist der heranwachsende Mensch den Anforderungen des psychischen und sozialen Lebens gewachsen. Er entwickelt eine reife Persönlichkeit, die mit den Herausforderungen des Lebens zurechtkommt.
Allerdings schützt eine nicht-neurotische »gesunde« Entwicklung nicht davor, dass übermäßiger Stress und Belastungen reaktive Störungen hervorrufen. Insofern kann auch auf der Basis einer reifen Persönlichkeit eine reaktive Pathologie entstehen (
Eine Sondersituation entsteht, wenn nach Abschluss der Entwicklungsjahre ein Schocktrauma in das Leben einbricht und die Persönlichkeit unter der Wucht der Erfahrungen zusammenbricht. Dann können schwerwiegende posttraumatische Syndrome entstehen, die aber nach einer überschaubaren Zeit wieder abklingen können. Es bleibt eine Verletzlichkeit und eine Tendenz erhalten, der Traumaerinnerung auszuweichen. Im Übrigen bleibt das Ereignis auf das Ausmaß einer reaktiven Störung bei traumatischer Belastung begrenzt.
Anhaltende Persönlichkeitsveränderungen als Traumafolgen entstehen bei Extremtraumatisierungen im Erwachsenenalter. Sie sind in ihrer Struktur der Entwicklungspathologie sehr ähnlich. Sie sind vor allem durch Strukturdefizite aufgrund des traumatischen psychischen Zusammenbruchs geprägt und gehen oft in komplexe posttraumatische Störungen über (
3.2.2 Psychogene Pathologie und Persönlichkeit
Entwicklungs-, präödipale, Konflikt-, Trauma- sowie die reaktive Pathologie sind die hervorgehobenen Eckpunkte im Kontinuum der neurotischen Erlebnisverarbeitung (
Neurotische Persönlichkeitszüge und die neurotische Persönlichkeit
Entscheidend für das Verständnis der Neurosenentstehung ist die Tatsache, dass die Neurosenpathologie ständig kompensiert und der neurotische Kern andauernd unbewusst gehalten werden müssen. Auf Dauer wird die gesamte Persönlichkeitsorganisation in die Kompensations- und Abwehrprozesse einbezogen. Auf diese Weise entsteht aus einer zunächst unauffälligen Persönlichkeit eine neurotische (bzw. posttraumatische) Persönlichkeit, die sich zur Persönlichkeitsstörung weiterentwickeln kann.
Die Entwicklung einer neurotischen Persönlichkeit ist durch Erlebnis- und Reaktionsweisen geprägt, welche die Funktion haben, ein Gegengewicht zu den unbewussten Kernkonflikten, traumatischen Erinnerungen oder strukturellen Defiziten zu bilden. Die daraus entstehenden typischen Erlebnis- und Verhaltensmuster werden als neurotische Persönlichkeitszüge bezeichnet.
Die neurotische Persönlichkeit ist als solche aber keine Störung, sondern lediglich die psychodynamische Basis für eine potenzielle spätere Störung, d. h. ein Erkrankungsrisiko. Erst unter spezifischer Belastung kann die Abwehrfunktion der Persönlichkeit versagen und eine Störung manifest werden.
Je nach Art der zugrunde liegenden Pathologie haben die neurotischen Persönlichkeitszüge verschiedene Funktionen:
• Defensive (abwehrbedingte) Persönlichkeitszüge: Es handelt sich um chronische Abwehroperationen, mit denen verdrängte Konflikte unbewusst gehalten werden. Das gilt vor allem für Persönlichkeitsstörungen auf der Basis einer Konfliktpathologie bzw. auf höherem Strukturniveau. Beispiele sind eine hysterische Planlosigkeit aufgrund der Verdrängung zielgerichteter Triebwünsche oder eine zwanghafte Pedanterie, mit der anale Willkürimpulse abgewehrt werden.
• Defizitäre Persönlichkeitszüge, z. B. die Neigung zu wiederholten Impulsdurchbrüchen und Kontrollverlusten. Hier zeigt sich in unverhüllter Weise die strukturelle Störung des Ich. Die Persönlichkeitszüge sind eine unmittelbare Folge einer Ichschwäche. Sie sind Anzeichen einer Entwicklungspathologie bzw. einer Persönlichkeitsstörung auf niederem Strukturniveau.
Abb. 3.1: Psychogene Pathologie: Von der Persönlichkeitsmatrix zur klinischen Störung
• Kompensatorische Persönlichkeitszüge: Maßnahmen zum Ausgleich von strukturellen Funktionsdefiziten. Sie sind für die Entwicklungspathologie typisch und kommen vor allem bei Persönlichkeitsstörungen auf niederem Strukturniveau vor. Beispiele sind misstrauische Haltungen, mit denen Situationen vermieden werden, die eine bei diesen Patienten nicht genügend entwickelte soziale Kompetenz erfordern würden.
Kompensatorische und defizitäre Persönlichkeitszüge stehen in einem inneren Bezug zueinander. Man kann sagen, dass die Funktion der kompensatorischen Züge darin besteht, Strukturdefizite auszugleichen.
Bei Traumapatienten finden wir je nach struktureller Organisation der Traumaerfahrung Persönlichkeitszüge, die entweder mehr dem Abwehrtyp oder mehr dem Defizit-Kompensations-Typ entsprechen (
Die Persönlichkeit bei der Entwicklungspathologie
Bei Menschen mit einer Entwicklungspathologie bestehen defizitäre Persönlichkeitszüge, z. B. die Neigung zu Impulsdurchbrüchen, die unmittelbar die zugrunde liegende Ichschwäche erkennen lassen. Daneben werden kompensatorische Mechanismen aufgebaut, um die Defizite der Ichorganisation auszugleichen. Primäre Spaltungsprozesse werden durch supportive Beziehungen ausgeglichen. Mängel in Hinblick auf die Wahrnehmung, realitätsgerechte Einstellungen, planendes Handeln usw. können durch äußere Strukturen und Verhaltensweisen, z. B. durch einen strikten Tagesplan, kontinuierliche Arbeit oder zwanghafte Beschäftigungen substituiert werden.
Ein Ausgleich ist aber nur solange erfolgreich, wie solche Arrangements verfügbar sind. Verluste von haltgebenden Personen (Lehrer als Vorbilder), äußeren Strukturen (sicherer Arbeitsplatz) oder strukturgebenden Tätigkeiten (geregelter Arbeitsalltag) bedrohen deshalb das labile innere Gleichgewicht. Daraus resultiert die für solche Patienten typische Objektangewiesenheit. Die Abwehrorganisation in Form der Spaltungsabwehr und projektiver Mechanismen (