Späte Gegend. Lida Winiewicz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lida Winiewicz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783992002825
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war, hab ich die Lehrerin in der Greißlerei getroffen (die gibt’s heute auch nicht mehr, diese Dorfgreißlerei mit ihrem Geruch nach Brot, Blaudruck, Seife und Kaffee), und sie hat laut gesagt: »Das ist die Christine, die war meine beste Schülerin!« Ich bin ganz rot geworden, obwohl ich erwachsen war. Den Lehrer hab ich nicht mögen. Er war ein gemeiner Kerl.

      Einmal haben der Rudl und ich nach der Schule Kirschen gegessen, von einem Zweig, der ist schwer über einen Zaun gehangen. Der Lehrer hat es gesehen (er hat mit dem Jagdfeldstecher aus dem Schulfenster geschaut), ist zu dem Bauern gegangen, dem der Kirschbaum gehört hat, und hat uns verklagt.

      Der Bauer ist zu unseren Eltern, und die haben uns gehaut. Ich versteh’s: Sie hatten kein Geld, und der Bauer wollte Schadenersatz.

      Ein paar Jahre später ist der Lehrer vom Wirtshaus heimgegangen, in einer Sommernacht. Da waren plötzlich Krampusse da, sechs Krampusse mitten im Juli, haben kein Wort gesprochen und ihn verprügelt.

      Der Lehrer war eine Woche im Bett.

      Man hat sie nie ausgeforscht.

      Das ganze Dorf hat’s ihm gegönnt.

      Mit zehn bin ich in den Dienst. Es war höchste Zeit, zu Haus ist es immer schlechter gegangen, der Vater war ohne Arbeit, weil er Invalide war, ist nur mehr beim Ofen gesessen und hat Asthmakraut geraucht.

      Er hat keine Rente bekommen, ich weiß nicht, warum. Ich glaub’, weil er eigentlich Tscheche war, die Tschechen haben aber jetzt ihren eigenen Staat, und da haben die Unsrigen gesagt, er soll zurück in die Tschechei, die sind für die Rente zuständig.

      Der Vater wollte nicht. Was hätte er anfangen sollen, als Fremder, mit Frau und sechs Kindern? Wir haben kein Wort Tschechisch gekonnt.

      Verwandte waren keine da. Die Großeltern und ein Onkel waren in Amerika. Das hat sich so zugetragen: Der Onkel (vom Vater der Bruder) hätte zur Armee einrücken sollen, aber er hat sich versteckt. Deserteure sind aufgehängt worden. Also haben die Eltern verkauft, was sie verkaufen konnten, und sind mit ihm übers Meer. Der Vater hätte mitfahren können, aber er war schon verlobt mit meiner Mutter, und die wollte vom Wegfahren nichts wissen.

      Ob’s ihr später leidgetan hat? Ich weiß nicht.

      Ich weiß fast nichts über meine Eltern. Wir haben »Sie« zu ihnen gesagt, nicht richtig »Sie«, sondern »hat– die–Mutter«, »hat–der–Vater«, »erlaubt–die–Mutter« und so weiter. Sie haben nichts von sich erzählt. Beim Arbeiten war nichts zu sagen und nach dem Arbeiten schon gar nichts, da wollte man essen und ins Bett.

      Die Großeltern und der Onkel sind nie zurückgekommen. Das hat mir leidgetan. Ich hätt’ sie gern kennengelernt.

      Später haben sie Geld für eine Kuh geschickt und eine Keusche. Ab da ist es uns besser gegangen, aber so weit bin ich noch nicht.

      Der Vater, ich hab’s schon gesagt, ist krank aus dem Krieg gekommen, mit einer Kugel im Leib. Wir haben gewusst, irgendwann erreicht sie das Herz, dann ist Schluss.

      Manchmal hat er Schmerzen gehabt.

      Heut’ würd’ ich sagen, die Kugel war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Bilder in seinem Kopf: vier Jahre Krieg in Russland.

      Ich hab von dem Urlaub erzählt, wo ich ihm das Essen nicht vergönnt hab. Knapp vorher (der Rudl hat einmal in der Nacht nicht schlafen können und die Eltern reden gehört), knapp vorher ist sein Regiment in einen Sumpf geraten, rundherum waren die Russen und haben auf alles gezielt, was sich bewegt hat. Der Vater ist auf einen Baum, in die Zweige, dort ist er gehockt, in der Kälte, zwei Tage und zwei Nächte lang, und hat gesehen, wie die Männer langsam versunken sind, und hat sie schreien gehört.

      Noch Jahre später hat er manchmal im Traum geschrien.

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