Späte Gegend. Lida Winiewicz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lida Winiewicz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783992002825
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keine Ferien gehabt. Im Sommer war schulfrei, das stimmt, aber nur auf dem Papier. Die Arbeit daheim ist im Sommer nicht weniger geworden, im Gegenteil. Wie ich ein Kind war, hat’s das Wort »Freizeit« nicht gegeben.

      Der Vater hat nach der Arbeit Feierabend gemacht. Das war so: Er ist gesessen und hat geraucht. Das war alles.

      Der Vater war Pfeifenraucher. Die Pfeife, aus Porzellan, war bemalt: grüner Wald, blauer Himmel, gelbe Sonne mit schrägen Strahlen, wie mit dem Lineal, ein Marterl am Wegesrand, darunter ein Spruch, sechs Zeilen, ich weiß sie nicht mehr; ich weiß nur, ich hab nach und nach gelernt, die Wörter zu verstehen: Es war vom Kaiser die Rede, vom Vaterland, und von einem Mädchen.

      Die Mutter hat dem Vater nie Vorhaltungen gemacht wegen dem Tabak. Sehr teuer kann er nicht gewesen sein, aber für uns war alles teuer.

      Geraucht hat nur er. Eine Frau hätt’ sich niemals rauchen getraut.

      Manchmal hat der Vater auch was anderes geraucht: Asthmakraut gegen den Husten. Das hat man beim Apotheker gekriegt. Wenn der Husten ganz arg war, hat sich einer meiner Brüder zum Vater hingesetzt und auch Asthmakraut geraucht, dem Vater direkt in die Nase.

      Wenn heute ein Steinmetz hustet, heißt das »Silikose«. Man sagt, sie ist zurückgegangen. Das wundert mich nicht. Wo früher hundert Steinmetze gesessen sind, sitzen jetzt zehn. Und dass zehn Männer weniger husten als hundert, versteht jedes Kind.

      Die Mutter hat keinen Feierabend gehabt. Wir auch nicht. Wir waren immer auf den Beinen, im Winter drin, im Sommer draußen. Im Sommer sind wir in den Wald, Beeren brocken; jedes Kind mit einem Krug, und der Krug hat randvoll werden müssen. Mit einem halb leeren hätt’ sich keines nach Haus getraut. Wir haben zusammengeholfen, manchmal an die zwanzig Kinder, und wenn alle Krüge voll waren, hat es geheißen: »Mundbrocken!«

      Dann haben wir uns satt gegessen, an Heidelbeeren und Preiselbeeren.

      Die Mutter hat die Beeren für Beerenkoch getrocknet, das schmeckt gut und geht ohne Zucker, nur Beeren, Mehl, Wasser. Sonst nichts.

      Ich hab vor sechzig Jahren zum letzten Mal Beerenkoch gegessen. Wer trocknet heute noch Beeren? Heutige Kinder gehen nicht mehr mit Krügen in den Wald.

      Das Beerenessen, mein’ ich, hat uns am Leben erhalten. Unsere Kost war ungesund: Kraut, Rüben, Erdäpfel, Mehl, wenig Ziegenmilch.

      Keine Eier. Woher Hühnerfutter nehmen?

      Körner haben wir selber geschluckt.

      Das mit der Freizeit stimmt nicht, nicht ganz: dass wir keine hatten. Ein Spiel hat’s gegeben: »Tapperl«.

      »Tapperl« war: Fangerl spielen. Wir haben es im Sommer gespielt, am Heimweg von der Schule.

      Im Winter sind wir stattdessen über den Schnee gerutscht. Ein paar Kinder hatten Schlitten. Wir nicht. Schlitten kosten Geld.

      Wir haben die Schultasche genommen. Man legt sie hin, setzt sich drauf, streckt die Beine weg und fährt los. Das knirscht, und man spürt es sausen.

      Meine Banknachbarin in der Klasse, Hermine hat sie geheißen, hat eine Rodel gehabt. Die Eltern waren Bauern. Sie sind uns reich vorgekommen, waren s’ auch, verglichen mit uns. Trotzdem wollte sich die Hermi vom Franz die Schultasche ausborgen.

      Der Franz war mein älterer Bruder.

      »Warum nimmst du nicht deine eigene?«, hat er gefragt, und die Hermi hat gesagt: »Weil sie hin wird!«

      Er hat ihr die Tasche geborgt. Und ich hab gesagt: »Darf ich derweil mit deinem Schlitten fahren?« Und sie hat geantwortet: »Nein!«

      Heut’ denk ich mir, so blöd darf man nicht gewesen sein. Warum hab ich mich nicht einfach auf ihre Rodel gesetzt und bin ihr nachgefahren? Warum bin ich stehen geblieben und hab geflennt?

      Die Hermine hat mit siebzehn geheiratet, den Apotheker vom Ort, er war dreimal so alt wie sie. Heute ist sie Witwe, wie ich. Manchmal seh’ ich sie in der Kirche.

      Man sollt’s nicht für möglich halten: Jedes Mal gibt es mir einen Stich!

      Das Schulgehen war schön. Nicht immer und nicht die ganzen vier Jahre – ich war nur vier Jahre dort –, aber die ersten zwei. Man durfte ruhig sitzen! Im Winter war geheizt!

      Eine Lehrerin und ein Lehrer haben sich um uns gekümmert, jeder um je zwei Klassen, in je einem eigenen Raum. Die eine Klasse hat sich leise beschäftigt, die andere hat laut gelernt. Nach einer Zeit wurde gewechselt. Wer nicht gefolgt hat, hat ein paar auf die Finger gekriegt, mit dem Lineal.

      Ich nie.

      Ich hab immer gefolgt. Nicht folgen wär’ mir nicht eingefallen. Ich hab nichts anderes gekannt. Wir haben den Eltern gefolgt, den Lehrern, den »Oberen«, die, denen wir gefolgt haben, haben wieder anderen gefolgt, die anderen wiederum anderen, bis hinauf zum Kaiser in Wien, und über dem Kaiser, da war immer noch der liebe Gott.

      Ich weiß noch gut, wie der Kaiser in Wien gestorben ist, da haben die Leute gesagt: »Jetzt ist keiner mehr da, der sich um uns kümmert.«

      Ich weiß nicht, ob sich der Kaiser viel um uns gekümmert hat, ich glaub nicht, und heute denk’ ich, es wär’ gescheiter gewesen, wir hätten manchmal gefragt, aber fragen – ich hab’s schon gesagt –, fragen war bei uns nicht üblich.

      Der Vater, die Brüder, mein Mann – alle sind in den Krieg gegangen, ohne eine Frage zu stellen. Ich glaub’, meine Enkel täten das heutzutag nicht mehr.

      Die Frau Lehrerin war lieb. Sie hat uns fast nie geprügelt. Der Herr Lehrer oft. Und am meisten der Herr Katechet, auf die Finger und den bloßen Hintern. Die Buben haben nicht selten blutige Hintern gehabt.

      Er hat auch etwas anderes mit den schlimmen Buben gemacht, der Herr Katechet: Er hat sie über den Boden gehalten, mit einer Hand – er war stark –, vielleicht einen Meter hoch, sie haben geschrien und gezappelt, dann hat er die Hand aufgemacht und sie einfach fallen lassen, auf den Fußboden, mit einem Krach. Ich hab’s gesehen. Ich war dabei.

      Trotzdem, wenn ich’s jetzt erzähl’, glaub ich fast, es ist nicht wahr. Aber dann fällt mir ein (unser Hof liegt nicht weit von Mauthausen, wo das Konzentrationslager war), es ist damals geredet worden, hinter vorgehaltener Hand, was dort geschieht im Lager. Wir haben es nicht geglaubt. Es gibt sogar Leute in der Gegend, die glauben es heute noch nicht, obwohl man jetzt weiß, so war’s. So ähnlich geht’s mir, wenn ich an den Herrn Katecheten denk’.

      Er war keine Ausnahme. Leider. Die Geistlichen in unserer Gegend haben nichts für uns getan, nichts für die unehelichen Kinder, im Gegenteil, ledigen Müttern haben sie das Leben schwer gemacht, und auch den ehelichen! Wenn eine Wöchnerin aus dem Kindbett aufgestanden ist, war sie »unrein« und hat nicht in die Kirche dürfen. Erst, wenn der Pfarrer sie »gereinigt« hatte (gesegnet) an der Kirchentür, mit Gebeten, Weihrauch und Kruzifix.

      Fürs Segnen hat er was bekommen – kein Geld, niemand hatte welches –, aber ein Huhn, ein Stück Butter, ein paar Eier, einen Krug Most. Fast alle Pfarrer waren dick.

      Die Mutter hat mit uns nie über diese Dinge gesprochen. Aber wenn sich die anderen Frauen beim Herrn Pfarrer angestellt haben, um ihm die Hand zu küssen, ist sie vorübergegangen und hat nur gesagt: »Grüß Gott!«

      Zur Messe sind wir fast nie: Wir hatten nichts anzuziehen!

      Ich hab deshalb in Religion geschimpft gekriegt vom Katecheten, aber wenn er gefragt hat, warum wir nicht in der Kirche waren, hab ich kein Wort gesagt. Am Sonntag im Werktagskleid? Wir hätten uns zu Tod geschämt!

      Einmal, in Religion, ist der Schuldiener gekommen und hat das Bild vom Kaiser von der Wand heruntergeholt. Dann hat man lange Zeit die leere Stelle gesehen, mit einem viereckigen Schmutzrand, und dann war ein neues Bild da, ich weiß nicht, von wem.

      Ich war acht. Später ist mir aufgegangen, ab damals war Republik. Für uns hat sich nichts geändert.

      Die Lehrerin hab ich mögen, am allerersten Tag.

      »Guten Morgen! Heißt jemand Christine?«