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»Hallo, Kleiner«, sagte Adrian freundlich zu dem Jungen, dessen dunkle Augen sich sofort auf ihn richteten. Wie hübsch er war mit seinen blonden Haaren und den braunen Augen! Er war klein und ziemlich mager, das fiel Adrian erneut auf. Noch immer war sein Gesicht sehr blaß, aber das war nicht weiter verwunderlich, schließlich hatte er einen wirklich ganz schweren Unfall überstanden.
»Die anderen haben mir gesagt, daß du noch kein Wort gesprochen hast«, begann Adrian. »Willst du vielleicht mit mir reden? Wir könnten dann einmal ein Gespräch unter Männern führen.«
Die dunklen Augen sahen ihn an, aber der Junge gab durch nichts zu erkennen, daß er Adrians Worte gehört oder verstanden hatte. Und er öffnete nicht einmal den Mund, um ihm zu antworten. Von vornherein schien festzustehen, daß er nichts sagen würde.
Doch so schnell wollte der Arzt nicht aufgeben. »Du kannst dir doch sicher denken«, sagte er freundlich, »daß sich deine Eltern Sorgen um dich machen. Wie sollen wir sie benachrichtigen, wenn du uns nicht einmal deinen Namen sagst? Hm?«
Der Junge antwortete nicht, er sah ihn nur an. Allmählich verstand Adrian Julias Beunruhigung. Auch er begann sich zu überlegen, ob etwas übersehen worden war. Aber nein, das war nicht möglich. Der Junge hatte keine weiteren Verletzungen – er konnte mit Sicherheit sprechen, wenn er wollte. Nur: er wollte offenbar nicht, und Adrian Winter hätte zu gern gewußt, warum nicht.
Er griff nach der Hand des Jungen und drückte sie. Der Kleine erwiderte den Druck nicht. Völlig schlaff lag die kleine in der großen Hand. Der Blick des Arztes wurde nachdenklich. »Was ist nur mit dir los?« fragte er. »Du wirst doch nicht dein Gehör verloren haben? Aber nein, dann würdest du versuchen, mit mir zu sprechen. Aber du liegst einfach da und siehst mich an. Warum sagst du nicht wenigstens ›Hallo‹?«
Der Junge wandte den Kopf ab und schloß die Augen. Er sah traurig und ängstlich aus, und Adrian begann zu ahnen, daß er ein Geheimnis hatte. Aber wie sollte er dieses Geheimnis herausfinden, wenn der Junge nicht sprechen wollte?
Er tätschelte dem Kleinen voller Zuneigung die Wange. Dieser reagierte auch jetzt nicht, und auf Zehenspitzen schlich der Arzt hinaus. Vielleicht schlief der Junge ein – und wenn er aufwachte, hatte er auch die Sprache wiedergefunden.
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Alexander lief seiner Mutter entgegen, als sie die Wohnungstür aufschloß. »Und?« rief er gespannt. »Hast du ihn gefunden?«
Wenn sie gehofft hatte, daß Pablo in der Zwischenzeit nach Hause gekommen war, so war ihre Hoffnung durch diese Frage ihres Sohnes zunichte gemacht worden.
»Nein«, antwortete sie. »Ich habe überall nach ihm gesucht, aber nirgends eine Spur entdecken können. Es hat ihn anscheinend auch niemand gesehen.« Ihr Gesicht war bleich, und sie hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich muß zur Polizei, Alex. Ich bin sicher, daß etwas passiert ist, sonst wäre Pablo längst wieder da.«
»Zur Polizei?« fragte Alexander mit großen Augen. »Aber er hat sich vielleicht nur verirrt, Mami, und wenn ihm jemand den richtigen Weg sagt, dann…«
Sie unterbrach ihn. »Und wie soll das gehen?« fragte sie. »Er versteht doch kein Deutsch. Nur weil ihr beide euch verständigen könnt, heißt das noch lange nicht, daß er jemand anders nach dem Weg fragen und dann auch noch die Antwort verstehen kann.«
Ihr Sohn ließ den Kopf hängen. »Ich wollte ihn nicht alleinlassen«, beteuerte er. »Ich hab’ nur mal ganz kurz ein bißchen Elfmeterschießen geübt – und plötzlich war er weg. Ich dachte doch, er ist hierher gegangen…«
»Schon gut«, sagte sie müde. »Das bringt uns jetzt nicht weiter, Alex. Wir müssen ihn finden – und zwar so schnell wie möglich. Ich darf gar nicht daran denken, was ihm hier alles passieren kann.«
Sie mußte sich sehr anstrengen, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr bereits in den Augenwinkeln saßen. Wenn sie nur den Jungen erst gesund wiederhatte! Obwohl er erst so kurz bei ihnen war, hatte sie ihn bereits ins Herz geschlossen. Der Gedanke, daß er jetzt völlig allein durch eine ihm fremde Stadt irrte, war ihr unerträglich. Und an die anderen Möglichkeiten durfte sie erst gar nicht denken. Wenn ihm nur nichts passiert war!
»Kann ich mitkommen zur Polizei?« fragte Alexander kleinlaut. Er fühlte sich schuldig und wollte nicht mehr allein in der Wohnung bleiben.
Seine Mutter nickte. »Ja, vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn du mitkommst. Ich rechne nicht mehr damit, daß Pablo plötzlich hier auftaucht, aber vorsichtshalber sage ich nebenan Bescheid, daß sie ihn nicht wieder laufenlassen, wenn er doch kommen sollte. Wir werden ja auch nicht lange weg sein.«
Gemeinsam verließen sie die Wohnung, beide blaß und stumm und voller Sorgen.
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»Du bist ja immer noch hier, Adrian!« sagte Julia Martensen erstaunt. Es war etwa eine Stunde, nachdem er sich mit Stefanie Wagner unterhalten hatte. »Hast du vergessen, daß heute dein erster Urlaubstag ist?«
»Nein, nein«, versicherte er. »Ich gehe jetzt.«
Sie lächelte ein wenig spöttisch. Zwar war sie ihm dankbar, daß er die Operation an Paul Lüttringhaus übernommen hatte, aber das würde sie nicht daran hindern, ihn ein wenig auf den Arm zu nehmen. »Wenn du glaubst, daß ohne dich hier alles zusammenbricht: Ich versichere dir, es ist nicht so!« sagte sie.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er. »Im Grunde kommt ihr hier bestens ohne mich zurecht – nur in seltenen Ausnahmefällen seid ihr dann doch froh, daß es mich gibt.«
»Fürs Pergamon-Museum ist es allerdings zu spät!« schaltete sich nun auch Monika Ullmann mit freundlichem Spott ein. »Aber wenn du dich morgen ein bißchen beeilst, dann kannst du den heutigen Rückstand leicht wieder aufholen.«
»Blöde Ziegen!« sagte er gespielt beleidigt, aber seine Augen blitzten vor Vergnügen, und er sah längst nicht mehr so müde aus wie direkt nach der Operation. »Ihr seid doch bloß neidisch, weil ich jederzeit gehen könnte, ihr aber nicht.«
»Dann tu’s doch!« antworteten ihm die beiden Frauen wie aus einem Munde.
»Tu ich auch!« sagte er. »Wenn ich bloß sicher wäre, daß alles in Ordnung ist mit dem Jungen und mit Frau Wagner.«
»Aber es ist alles in Ordnung«, betonte Julia. »Der Junge hat eine Gehirnerschütterung und wird eine Weile hierbleiben müssen. Es ist nichts gebrochen, und es besteht auch kein Grund zur Sorge. Das weißt du genausogut wie ich.«
»Aber gesagt hat er bis jetzt noch kein einziges Wort, oder? Wie kannst du da sagen, daß alles in Ordnung ist?«
Julia ließ sich überhaupt nicht erschüttern. »Er wird schon noch reden, das laß du nur unsere Sorge sein. Und Frau Wagner schläft jetzt, sie ist viel ruhiger geworden, nachdem du ihr noch einmal versichert hast, daß der Junge lebt. Du kannst also wirklich mit gutem Gewissen Urlaub machen.«
Er gab so plötzlich nach, daß er sich selbst darüber wunderte. »Na schön«, sagte er. »Dann überlasse ich euch jetzt eurem Schicksal.«
»Tschüs, Adrian«, sagte Julia nachdrücklich. »Bis in einer Woche.«
»Nicht etwa bis morgen oder so!« fügte Schwester Monika hinzu. »Falls wieder irgend was passiert, meine ich!«
Er würdigte sie keiner Antwort mehr. Kichernd sahen sie ihm nach. Er war zwar der Chef, aber manchmal war er zu komisch, fanden sie. Zum Glück verstand er Spaß. Bei Gelegenheit würde er es ihnen sicher heimzahlen, daß sie sich heute auf seine Kosten amüsiert hatten.
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»Seit wann vermissen Sie den Jungen, Frau Baumann?« fragte der Polizeibeamte ruhig. Die junge Frau, die seit ein paar Minuten mit ihrem Sohn vor ihm saß, war völlig durcheinander und hatte Tränen in den Augen. Er mußte sie erst einmal dazu bringen, ihm einigermaßen verständlich zu erklären, was passiert war.
Lisa