Auf der Straße war er zunächst erschrocken gewesen über die vielen Autos, die manchmal haarscharf neben ihm hergefahren waren, aber dann hatte er sich auf einmal unbesiegbar gefühlt. Das war wunderbar gewesen. Ganz wunderbar – bis zu dem Zeitpunkt, als er ein rotes Licht überfahren hatte. Er wußte natürlich, daß man das nicht durfte, aber er war so schnell gewesen, daß er sicher damit gerechnet hatte, noch schnell über die große Kreuzung flitzen zu können.
Mehr wußte er nicht. Danach mußte etwas passiert sein, denn als er wieder zu sich gekommen war, hatte er am Boden gelegen, und jemand hatte sich mit besorgtem Gesicht über ihn gebeugt und etwas gesagt. Ein Mann mit braunen Augen war das gewesen.
Die Tür öffnete sich, und der Mann, an den Pablo gerade eben gedacht hatte, kam zur Tür herein. Ob das ein Wunder war? Der Mann lächelte freundlich, und auch die Frau, die bei ihm war, lächelte. Pablo hoffte, daß das ein gutes Zeichen war. Vielleicht wußten sie nun endlich, wer er war und hörten auf, in ihrer Sprache auf ihn einzureden.
Ob er sie auf Spanisch ansprechen sollte? Vielleicht konnten sie ihn ja verstehen. Er hätte es zu gern getan, aber etwas hielt ihn zurück. Wenn sie wußten, wer er war, würden sie Lisa holen. Und so sehr er sich danach sehnte, sie zu sehen, so sehr fürchtete er sich auch vor diesem Zusammentreffen. Dann würde sie erfahren, was er getan hatte. Sie würde sehr traurig sein, vielleicht auch wütend. Und dann würde sie ihn nach Argentinien zurückschicken, obwohl er eigentlich mehrere Wochen hierbleiben sollte. Aber bestimmt wollte sie ihn nicht behalten, wenn sie erfuhr, daß er heimlich Alexanders Rad genommen hatte – trotz ihres Verbots.
»Und?« fragte Julia Martensen. »Mit welcher Sprache willst du anfangen?«
»Mit Englisch«, antwortete Adrian und setzte sein Vorhaben in die Tat um.
Die großen dunklen Augen des Jungen lagen auf seinem Gesicht, aber es gab kein Anzeichen, daß er verstand, was der Arzt sagte. Französisch war die nächste Sprache, die Adrian ausprobierte. Er sprach es nicht besonders gut, aber er brachte immerhin einige Sätze zustande. Das Gesicht des Jungen blieb unbewegt.
»Wahrscheinlich ist er Russe«, murmelte Adrian. »Das hat mir gerade noch gefehlt, obwohl ich mal ein paar Jahre Russisch gelernt habe.«
Julia sagte plötzlich auf spanisch: »Wo kommst du her, Kleiner?«
»Aus Argentinien«, lautete die prompte Antwort.
Die beiden Ärzte starrten den Jungen an, der über seine Antwort mindestens so überrascht war wie sie. Hatte er sich nicht vorgenommen, kein Wort zu sagen, damit Lisa ihn nicht vorzeitig zurückschicken konnte? Und wenn sie ihn nicht fand, dann konnte sie das schließlich nicht tun.
»Aus Argentinien«, wiederholte Adrian lächelnd. Zum Glück konnte er ein paar Brocken Spanisch – viel war es allerdings nicht. Aber das war nicht schlimm, er würde sich schon zu helfen wissen. In einem bunten Kauderwelsch aus Deutsch und Spanisch sprach er weiter, ohne sich im geringsten um die Grammatik zu kümmern. »Und du sprichst kein einziges Wort Deutsch?«
»Doch!« sagte Pablo. »Fußball kenne ich – und Butterbrot. Und Mountainbike…«
»Das ist aber englisch«, sagte Adrian lachend. »Egal, ich bin froh, daß wir nun wenigstens wissen, wo du herkommst. Jetzt können wir uns auch endlich vorstellen. Ich heiße Adrian und bin Arzt. Dies ist meine Kollegin Julia. Wir arbeiten beide in diesem Krankenhaus, es heißt Kurfürsten-Klinik. Und wie heißt du?«
Der Blick des Jungen wurde vorsichtig, er preßte die Lippen aufeinander.
Julia kam näher und lächelte ihm aufmunternd zu. »Du mußt keine Angst haben. Aber es gibt doch bestimmt jemanden, der sich Sorgen um dich macht. Hast du darüber schon einmal nachgedacht?«
»Lisa«, sagte der Junge leise. »Und Alexander.«
Julia und Adrian wechselten einen Blick. Sie mußten sehr behutsam vorgehen, sonst würden sie aus dem Jungen bestimmt nichts mehr herausbringen.
»Meinst du, sie sind böse auf dich wegen des Unfalls?« fragte Adrian.
Die Augen des Jungen wurden groß. »Unfall?« fragte er.
Adrian nickte. »Weißt du nicht mehr, was passiert ist?«
»Nicht genau.«
Adrian schilderte ihm behutsam, was er gesehen hatte. Er erwähnte auch, daß der Junge ihn zuvor überholt und er sich daraufhin vorgenommen hatte, mit ihm zu sprechen, weil er keinen Helm getragen hatte. Atemlos folgte der Kleine seinem Bericht. Obwohl Adrian oft die spanischen Wörter nicht einfielen, schien ihn der Junge gut zu verstehen.
Aber als der Arzt schwieg, schwieg der Junge noch immer. Wieder preßte er die Lippen fest zusammen. Er wollte nichts sagen, nein, ganz bestimmt nicht.
»Lisa und Alexander machen sich bestimmt Sorgen um dich«, versuchte Julia es von neuem. Ihre Stimme klang ganz sanft. »Es wäre besser, wenn wir sie anrufen könnten. Und willst du uns nicht wenigstens deinen Namen sagen?«
»Pablo.« Die Antwort kam so leise wie ein Windhauch.
»Wenn Lisa und Alexander kämen, wärst du auch nicht mehr allein, Pablo«, meinte Adrian. »Sie würden bestimmt sofort kommen. Und was meinst du, wie froh sie wären, dich endlich wiederzusehen. Es ist nämlich schon ziemlich viel Zeit vergangen seit dem Unfall, weißt du das? Wahrscheinlich suchen sie dich die ganze Zeit und haben schreckliche Angst um dich.«
Pablo schluckte, als er sich vorzustellen versuchte, wie es Lisa und Alex jetzt gerade ging. Es stimmte, daß sie sich sicher große Sorgen um ihn machten. Aber wie sollte er erklären, warum er trotzdem nicht wollte, daß man sie benachrichtigte? Das Beste war vermutlich, die Wahrheit zu sagen. Die beiden Ärzte sahen so aus, als könne man ihnen vertrauen. Vielleicht verstanden sie ihn sogar und halfen ihm.
»Ich hab’ das Rad heimlich genommen«, sagte er leise. »Es gehört Alexander, und Lisa hat verboten, daß ich allein damit fahre. Aber ich hab’s trotzdem getan.«
Adrian mußte sich anstrengen, alles zu verstehen, was der Junge sagte. Er sah hilfesuchend zu Julia, die die Sprache gut beherrschte. Sie übersetzte schnell, und er fragte sie, was »schimpfen« auf spanisch hieß. Sie lächelte, als sie ihm antwortete, sie konnte sich denken, was er als nächstes sagen wollte.
»Dann wird sie mit dir schimpfen, aber mehr auch nicht«, meinte Adrian ruhig und sah dem Jungen dabei in die Augen. »Als ich so alt war wie du, habe ich meiner Mutter auch solche Streiche gespielt. Zuerst war sie böse auf mich, aber sie hat mir immer verziehen.«
»Lisa ist nicht meiner Mutter.«
Adrian beugte sich vor. »Bist du zu Besuch bei ihr?«
Pablo nickte. Und dann auf einmal brach alles aus ihm heraus: Wie sehr er sich auf diesen Besuch in Deutschland gefreut hatte und daß man ihm zu Hause in Argentinien gesagt hatte, er müsse seinem Land Ehre machen und sich hier gut benehmen. Und das hatte er ja auch getan die ganze Zeit, weil es ihm so gut gefiel hier und weil Lisa und Alexander so lieb zu ihm waren.
Noch nie in seinem Leben war er so glücklich gewesen, für ihn war Berlin das Paradies. Und nun hatte er alles falsch gemacht, und Lisa würde ihn bestimmt nach Hause schicken, wenn sie erfuhr, was er getan hatte. Und dann mußte er in seiner kleinen Stadt mit der Schande leben, daß er seine Gastmutter zutiefst enttäuscht hatte.
Dabei war alles so schön gewesen: Alexander war wie ein Bruder für ihn und Lisa wie eine Mutter. An seine Eltern konnte er sich nicht mehr erinnern, sie waren schon lange tot und er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als eine Familie – und nun, wo er eine gefunden hatte, wenigstens für ein paar glückliche Wochen, da hatte er alles wieder zerstört, weil er nicht gehorsam gewesen war…
Adrian verstand nicht alles, was der blasse Junge hervorsprudelte, aber er brauchte nur in Pablos Augen zu sehen, um zu wissen, welche Seelenqualen er litt. Man mußte nicht mehr mit ihm schimpfen, weil er ohne Helm gefahren war und eine rote Ampel mißachtet hatte – er war für seinen Leichtsinn mehr als genug