»Womit fängst du an?« fragte Bernd Schäfer. Er selbst hätte in diesem Moment nicht zu entscheiden gewagt, was wichtiger war – der Eingriff am Kopf oder die Bauchoperation.
Er beneidete Adrian nicht um das, was er jetzt tun mußte – letztendlich lag das Leben des jungen Mannes in seinen Händen.
»Der Patient ist fertig, ihr könnt anfangen«, meldete Dr. Roloff, der neben seinem Narkosegerät stand und die Funktionen des Kranken genau kontrollierte.
Dr. Winter und Dr. Schäfer traten an den Tisch. Dankbar stellte Adrian Winter fest, daß auch Dr. Berger und Frau Dr. Zubrüggen, zwei junge Kollegen, die gerade ihre Assistentenzeit begonnen hatten, anwesend waren. Viel helfen konnten sie ihm zwar noch nicht, aber sie konnten assistieren und so Bernd Schäfer etwas mehr entlasten. Das würde ihm selbst dann im Endeffekt zugute kommen.
»Also los – wir fangen am Kopf an.« Seine Stimme klang ruhig und besonnen, und niemand merkte ihm irgendeine Unsicherheit an.
Dabei war Adrian Winter schon rechtschaffen nervös. Seine letzte Operation am offenen Schädel lag bereits eine geraume Zeit zurück.
Es war Präzisionsarbeit, die er jetzt leisten mußte. Ein zehntel Millimeter konnte darüber entscheiden, ob der Eingriff gelang oder nicht.
Endlich war es soweit – das Blutgerinnsel konnte abgesaugt werden!
Atemlose Stille herrschte im OP. Niemand sagte etwas, die knappen Befehle, die der Chefoperateur gab, waren das einzige Geräusch, wenn man vom Zischen des Narkosegerätes absah.
»Wie ist sein Zustand?« fragte Adrian Winter zwischendurch und blickte kurz zu Dr. Roloff hinüber.
»Noch recht stabil.«
Das bewog den Chirurgen, kurz aufzuatmen. Er wandte sich an Dr. Schäfer. »Machst du schon auf, Bernd?«
Der Freund nickte und ließ sich von der Instrumentenschwester das Skallpell reichen, mit dem er gleich darauf den Bauchraum öffnete.
»Ach du liebe Güte«, entfuhr es ihm, als er die Bauchhöhle geöffnet hatte und sah, daß alles voller Blut war.
»Wie ich befürchtet habe…« Dr. Winter übernahm ein frisches Skalpell. »Der arme Kerl hat mindestens zwei Risse. Na, wir werden sehen. Erst einmal muß das Blut abgesaugt werden.«
Er sah den jüngeren Assistenten auffordernd an, der daraufhin begann, die Blutmengen abzusaugen.
»Vorsichtig… nicht zu tief…« Adrian beugte sich noch ein bißchen tiefer vor. »Mehr links jetzt. Ja, so ist’s gut.«
Dr. Berger hatte kleine Schweißtropfen auf der Stirn stehen, und er mußte sich gewaltsam zusammenreißen, damit niemand bemerkte, daß er insgeheim zitterte. So hatte er sich die ersten Einsätze hier an der Kurfürsten-Klinik nicht vorgestellt.
Seiner Kollegin ging’s nicht viel anders, doch sie war, wie sich bald herausstellen sollte, wesentlich belastbarer als er, und Dr. Winter prophezeite ihr eine Zukunft als Chirurgin, während er das bei Dr. Berger nicht so sah.
Aber jetzt und hier arbeitete er zur Zufriedenheit des Chefchirurgen.
Als das Blickfeld etwas größer war und Dr. Winter darangehen konnte, exakter nach den Wunden in den Organen zu suchen, stellte sich rasch heraus, daß nicht nur die Milz völlig zerfetzt war, sondern Mathias Kehlmann auch einen Lungenriß und eine schwere Darmverletzung erlitten hatte.
Die Ärzte arbeiteten mehr als fünf Stunden, und dann endlich konnten sie die große Bauchwunde schließen.
»Das war hart«, kommentierte der Anästhesist.
»Sie haben ihm zweimal das Leben gerettet«, sagte die junge Ärztin bewundernd.
»Ach was, das ist mein Job«, winkte Dr. Roloff ab.
»Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen«, warf Adrian Winter ein. »Wenn du nicht so ein erstklassiger Anästhesist wärst, hätte ich einpacken können. Als kurz vor dem Vernähen der Darmrisse das Herz aussetzte…«
Dr. Roloff winkte ab. »Hör um Himmels willen auf. Nach mehr als dreißig Jahren am Narkosegerät weiß man schon, was man einem Patienten zumuten kann.«
Bernd Schäfer, der sich eben von einer jungen Schwester aus der OP-Kleidung helfen ließ, warf ein: »Ich denke, ein bißchen Glück müssen wir alle haben. Oder, wenn ihr’s anders ausdrücken wollt: Letztendlich liegt das Leben eines Patienten eben doch in den Händen eines Höheren. Wir können tun, was in unseren Kräften steht, aber allmächtig ist ein anderer.«
»Da hast du recht«, nickte Adrian und machte Anstalten, unter die Dusche zu gehen. »Ich danke allen nochmals herzlich. Ihr wart ein tolles Team. Und jetzt will ich Wasser auf mir spüren. Und hinterher einen starken Kaffee – und auch was zu essen, wenn’s geht.«
Walli lächelte. »Ich werde euch was in der Kantine organisieren.«
»Danke. Du bist wirklich unsere Beste!«
»Das hört man doch immer wieder gern!« Walli lachte, dann griff sie zum Telefon und erkundigte sich, was die Kantine um diese Zeit noch zu bieten hatte.
Als Dr. Winter in die Notaufnahme zurückkehrte, war sein offizieller Dienst schon lange zu Ende, aber er nahm sich dennoch die Zeit, mit den Kollegen, die jetzt hier arbeiteten, ein paar Sätze zu wechseln.
»Du warst ziemlich mutig«, meinte Julia Martensen. »Gleich eine Kopf- und Bauchoperation zu wagen… Ich bin sicher, daß die meisten anderen Chrirurgen davor zurückgeschreckt wären.«
»Gerissen hab’ ich mich um die Doppelaufgabe auch nicht gerade«, erwiderte Adrian Winter schulterzuckend, »aber es war die einzige Möglichkeit, dem Patienten wirkungsvoll zu helfen. Außerdem hatte ich Bernd dabei, und er ist mehr als ein Assistent.«
»Das stimmt«, nickte die schöne Internistin, die Dr. Bernd Schäfer auch sehr schätzte und ihm freundschaftlich verbunden war.
»Dennoch… es muß sich personell bald was ändern.« Dr. Winter war mal wieder bei seinem Lieblingsthema angelangt. »Wir sind so katastrophal unterbesetzt, daß ich gar nicht darüber nachzudenken wage, was sein wird, wenn zwei von uns in Urlaub sind und auch nur einer der leitenden Ärzte krank wird.«
»Dann macht unser Verwaltungschef einfach zu«, grinste Julia Martensen, die genau darüber informiert war, wie hart Adrian und Verwaltungsdirektor Thomas Laufenberg miteinander im Clinch lagen.
Dr. Winter forderte – und das mit Recht – mehr personelle Unterstützung.
»Ich werde gleich Montag noch mal mit Laufenberg reden.« Adrian Winters Stimme klang entschlossen. »Es kann so einfach nicht weitergehen. Und wenn er mir nicht glauben will, dann kündige ich eben. Soll er sehen, wie’s dann hier weiterläuft.«
Julia lächelte. Freundschaftlich und auch ein bißchen nachsichtig. »Du weißt ganz genau, daß kein Mensch dir eine solche Drohung abnehmen würde. Jeder weiß, daß du mit der Kurfürsten-Klinik inzwischen so verwachsen bist, daß du gar nicht mehr von hier wegwillst.«
»Unsinn! Das bildet ihr euch alle nur ein.« Doch sein Grinsen strafte seine Worte Lügen. Adrian Winter wußte genau, daß Julia recht hatte. In der Kurfürsten-Klinik fühlte er sich wohl. Hier war er daheim, hier hatte er Kollegen gefunden, die mehr als das waren: gute Freunde nämlich. Und die ließ man nicht gleich bei der geringsten Schwierigkeit im Stich.
»Geh nach Hause und schlaf dich aus«, riet Julia. »Morgen geht’s dir bestimmt schon wieder besser.«
»Mach ich auch. Bis dann, Julia. Einen ruhigen Abend wünsche ich euch allen.«
Damit verschwand er endgültig. Er war rechtschaffen müde, und so gern er wieder ins King’s Palace gegangen wäre, so gern er nochmals Stefanie Wagners Nähe gesucht hätte – heute war er sogar zu der