»Ver…« Es war normalerweise nicht Adrian Winters Art, in Anwesenheit von Patienten zu fluchen. Erst recht zeigte er nie Nerven. Aber jetzt konnte er sich kaum noch beherrschen. Er hatte alle Hände voll zu tun, und die Komplikationen, die sich immer wieder einstellten, ließen sich nicht mehr in den Griff bekommen.
»Wo zum Teufel, ist Bernd Schäfer?« knurrte er.
»Der hat doch heute frei«, wagte Schwester Walli zu entgegnen. »Aber beruhige dich ich hab’ schon nach ihm telefoniert, er ist bestimmt schon unterwegs.«
»Danke.« Er sah nicht hoch, sondern bemühte sich, die stark blutende Wunde des Mannes, der vor ihm lag, zu klammern. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, daß Schwester Renate ihm half. Sie war eine zierliche, kleine Person, wirkte eigentlich ziemlich unscheinbar, doch er hatte schon in den ersten Tagen gemerkt, daß sie eine hervorragende Schwester war. Auch jetzt zeigte es sich, daß sie belastbar war und überall da einsprang, wo Not am Mann war.
Der Patient, ein etwa dreißigjähriger Mann, blinzelte und versuchte die starken Schmerzen, die er hatte, tapfer zu unterdrücken.
»Einen kleinen Moment noch, dann geht’s Ihnen besser«, versicherte Adrian. »Ich werde Ihnen gleich noch eine Spritze geben.«
»Ich gehe schon und ziehe sie auf«, erbot sich Schwester Renate, die bisher geholfen hatte, den Verband zu fixieren.
Der Patient sah ihr dankbar nach. »Sie ist ein Engel«, sagte er leise.
»Das kann ich zwar nicht beurteilen, aber ich kann auf jeden Fall nachempfinden, daß Sie im Moment so denken. Sekunde noch… gleich geht’s Ihnen wieder besser.«
Der Patient war ein sehr kräftiger Mann. Dr. Winter schätzte ihn auf fast zwei Zentner und mindestens auf ein Meter neunzig Körpergröße. Hart im Nehmen war er auch, er hatte bisher alles tapfer hinter sich gebracht.
Doch nun kam Renate mit der Spritze. Das kleine zarte Instrument sehen, aufseufzen und in Ohnmacht fallen, geschah sozusagen gleichzeitig.
»Ach du liebes bißchen.« Renate sah den Chef der Notfallabteilung betroffen an. »Und was machen wir jetzt?«
Adrian grinste. »Jetzt bekommt er die Spritze, dann können Sie ihn wecken und ihn ein bißchen trösten. Ich bin sicher, das wird ihm gefallen.«
Renate wurde rot – denn der Mann, der da lag und im Moment so hilflos wie ein Baby wirkte, gefiel ihr auch.
Sie merkte in den nächsten Minuten nichts von der Hektik rings um sie her, sie kümmerte sich ausschließlich um diesen einen Patienten.
Und der genoß es!
Als er die Augen wieder öffnete, blickte er direkt in Renates dunkle Augen, die ihn besorgt anschauten. »Wie geht’s Ihnen?« fragte sie.
»Wundervoll.« Er konnte schon wieder lächeln. »Können Sie mir verzeihen, daß ich schlappgemacht habe? Ich kann einfach diese spitzen Nadeln nicht sehen.«
»Kein Problem. Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Aufrichten. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«
»Muß ich denn nicht hierbleiben?« Das klang fast so, als bedauere er es, nicht im Krankenhaus bleiben zu müssen.
Renate schüttelte den Kopf. »Aber nein. Die Wunde hat Dr. Winter hervorragend genäht – Sie sollten sie aber jeden zweiten Tag von Ihrem Hausarzt kontrollieren lassen. Ansonsten hat der Doktor Ihnen ein wenig Bettruhe verordnet.« Sie zögerte, dann fragte sie: »Sie haben doch sicher jemanden, der sich um Sie kümmert, nicht wahr?«
»Nein.« Gerhard Tessner wollte schon den Kopf schütteln, doch im letzten Moment fiel ihm ein, daß das wohl sehr schmerzhaft werden könnte. So zwang er sich, den Kopf ganz ruhig zu halten. Der Turban, den ihm Renate zusammen mit Dr. Winter angelegt hatte, machte dies auch sehr leicht.
Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Dann rief aus Kabine vier die Internistin Julia Martensen: »Kann mir mal eben jemand helfen?«
Renate ließ den Arm ihres Patienten los. »Ich muß…«
»Und ich warte auf Sie – draußen im Flur.« Gerhard grinste.
»Mir ist es egal, wo ich mich ausruhe.«
»Aber ich habe Dienst!«
»Doch nicht die ganze Nacht über!«
Renate schüttelte lächelnd den Kopf. »Nur bis halb neun.«
»Das halte ich bestimmt so lange aus.«
Sie gab ihm keine Antwort mehr, sondern eilte zu Kabine vier, wo sich die aparte Ärztin gerade um eine alte Dame bemühte, die bei dem Unfall einen Herzanfall erlitten hatte.
Renate assistierte der Ärztin, half hinterher, die Patientin auf Station zu bringen. Doch immer lag ein kleines Lächeln auf ihren Lippen, und in jeder freien Minute wanderten ihre Gedanken zu dem Mann, der draußen saß und auf sie wartete…
Gerhard seinerseits lehnte den Kopf vorsichtig an die kühle Wand des Flures – und schlief ein, ehe er wußte, wie ihm geschah.
Niemand bemerkte es, alle waren damit beschäftigt, die Patienten, die die Notaufnahme bevölkerten, zu versorgen. Obwohl jede Kabine besetzt war, obwohl die Ärzte und Schwestern alle Hände voll zu tun hatten, merkte man als Außenstehender kaum etwas von der Hektik, die hier herrschte. Adrian Winter und sein Team arbeiteten routiniert wie immer, und der junge Chirurg war froh, als endlich auch Bernd Schäfer hereinkam.
»Da bin ich.« Er blickte sich um. »Was liegt an?«
Adrian wies auf einen kleinen Jungen, der auf dem Schoß seiner Großmutter saß. »Ich tippe auf zwei glatte Wadenbeinbrüche. Er hält sich so super still, daß wir noch nichts unternehmen mußten. Könntest du die Brüche einrichten?«
»Klar doch.« Bernd wandte sich an den kleinen Patienten. »Nett von dir, daß du auf mich gewartet hast. Weißt du, ich mache hier von allen die schönsten Gipse. Und du willst doch bestimmt den absoluten Supergips haben, oder?«
Der etwa Siebenjährige nickte eifrig.
»Na, dann komm mal mit. Als erstes müssen wir dein Bein röntgen, dann bekommst du diesen Prachtgips.«
»Oma… du kommt doch mit?« Zum erstenmal zeigte der Knirps so etwas wie Angst.
»Darf ich?« Die Großmutter, eine resolut wirkende Frau von etwa fünfundfünfzig Jahren, sah Dr. Schäfer fragend an.
»Bis zur Röntgenabteilung gern. Dann muß der Kleine für ein paar Minuten allein in den Röntgenraum. Aber…« Er wandte sich mit aufmunterndem Lächeln an den Jungen, »das ist ja ein Kinderspiel für dich, was?«
Sein kleiner Patient nickte nur. Man sah ihm an, daß er sich alles andere als wohl in seiner Haut fühlte, aber sich tapfer bemühte, die Angst nicht zu zeigen.
Während sie mit einer Rolltrage hinüber zur Röntgenabteilung fuhren, erkundigte sich Bernd Schäfer: »Wie heißt du eigentlich?«
»Bernd. Bernd Klaasen.«
»Das ist lustig. Ich heiße auch Bernd. Na, dann können wir zwei ja direkt Freunde werden, oder?«
»Aber nur, wenn du mir wirklich nicht weh tust! Und wenn ich eine tolle Zeichnung auf meinen Gips kriege. So wie der Uwe, der hatte ein Glücksschwein drauf.«
Der junge Chirurg nickte. »Das bekommst du, das schwöre ich dir.«
Skeptisch sah der kleine Junge von der Liege aus zu ihm hoch. »Kannst du denn überhaupt malen?«
Bernd Schäfer schüttelte den Kopf. »Ich selbst leider nicht. Aber mein Freund kann ganz toll zeichnen. Weißt du, er ist hier der Chef, aber wenn ich ihn darum bitte, malt er dir die tollsten Bilder auf dein Bein.«
»Klasse!« Bernd, der Kleine, strahlte, und er ließ tapfer die Röntgen-Prozedur