Nach mehreren Versuchen war es keiner der beiden Gruppen gelungen, Jesu Einfluss auf die Menge zu verringern. In einem Moment der Verzweiflung verbündeten sie sich daher. Alles, was sie brauchten, war ein … wie hat Pilatus es ausgedrückt? Einen Grund für eine Anklage. Der Apostel Johannes kannte oder traf später jemanden, der dort dabei gewesen war. Irgendwann übernahmen die Emotionen von einigen die Kontrolle über deren Mund, und sie platzten damit heraus, was schon jeder im Raum dachte:
„Was sollen wir bloß tun? Dieser Jesus vollbringt viele Wunder, und wenn wir nichts gegen ihn unternehmen, wird bald das ganze Volk an ihn glauben. Dann werden die Römer eingreifen, uns den Tempel wegnehmen und auch das Volk.“4
Vierzig Jahre später geschah genau das.
Mehr dazu in Kürze.
Am Ende konnten die religiösen Anführer einen Grund für eine Anklage fabrizieren. Jesus wurde wegen schlechter Theologie und terroristischer Drohungen gegen den Tempel für schuldig befunden. Pilatus machte bei der Scharade mit, um die Leute bei Laune zu halten, die dann die übrigen Leute bei Laune gehalten haben.
Hierbei ging es nie um Gerechtigkeit.
Es war kein Verbrechen begangen worden.
Wenn wir ein wenig Abstand nehmen von dem Chaos und der rasanten Folge von Ereignissen, die zu seiner Kreuzigung führten, ist völlig klar, dass Jesus verhaftet und gekreuzigt wurde, weil er zu beliebt war. Er wurde gekreuzigt, weil er zu viele Menschen angezogen hatte. Menschen, die überhaupt nicht wie er waren, mochten ihn. Und er mochte sie auch. Es war schwer, ihm zu widerstehen. Das merkten selbst die, welche in Jerusalem das Sagen behalten wollten. Es war fast unmöglich, ihm zuzuhören, zuzusehen und ihn dann noch abzuweisen. Warum? Er bot etwas Neues an. Etwas ganz Neues.
Aber das Neue passt selten denen, deren Wohlstand eng mit dem Alten verknüpft ist. Diejenigen, die vom Status quo am meisten profitieren, sind am wenigsten geneigt, ihn irgendwie infrage zu stellen.
Die unerwartete Wendung dieser Geschichte war, dass Jesu Kreuzigung mehr ein Anfang als ein Ende war. Sein Tod setzte das Neue in Gang, von dem er in seinem öffentlichen Dienst gesprochen hatte – das Neue, das von alttestamentlichen Propheten vorhergesagt und schon im ersten Buch Mose, der Genesis, angedeutet wurde. Was die Feinde Jesu nicht wussten – nicht wissen konnten – war, dass das Ende des Lebens Jesu zwar ein Ende brachte, doch das war nicht das Ende, das sie sich vorgestellt hatten. Sein Tod und seine Auferstehung lösten eine Kette von Ereignissen aus, die schließlich das Ende des antiken Judentums und des Römischen Reiches in seiner damaligen Form nach sich zogen, des Reiches, das unmittelbar für seinen Tod verantwortlich war.
DIE JESUS-BEWEGUNG
Nach der Auferstehung begannen die neu motivierten Nachfolger Jesu zu verstehen, dass er nicht gekommen war, um der Geschichte Israels einfach nur ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. Jesus war nicht gekommen, um eine neue Version des Judentums einzuführen. Seine Bewegung war nicht regional beschränkt. Die Jesus-Bewegung war universal. Sie war für alle Nationen. Seine Anhänger behaupteten, Jesus sei das endgültige Opfer für die Sünde, wodurch der jüdische Tempel überflüssig geworden sei. Aber nicht nur der jüdische Tempel. Ungefähr zwanzig Jahre nach Ostern kam Paulus nach Athen und war nicht gerade begeistert, als er die zahllosen Götzenbilder sah. Er diskutierte mit den Leuten auf dem Marktplatz, später dann in ihrem Stadtsaal.5 Ohne direkt den Götzenkult anzuprangern, sprach er sie auf ein „Denkmal“ an, das die Inschrift trug: Dem unbekannten Gott. Das war die Versicherung der Athener, dass im Falle des Falles sie einen der Götter vergessen hätten, dieser nicht vollkommen zornig würde. Jedenfalls hatte Paulus den idealen Anknüpfungspunkt gefunden. Und er wies sie darauf hin, dass der Gott, den er ihnen nahebringen wollte, Verständnis für ihre Unwissenheit hatte.6 Aber nun war es an der Zeit, dass die Athener erwachsen wurden und den lebendigen, sozusagen mobilen Gott für alle Nationen als den einzigen anerkennen sollten.
Man muss nicht eigens erwähnen, dass die Jesus-Bewegung sofort im Widerspruch zur jüdischen und nicht-jüdischen Kultur stand. Das lässt sich leicht nachvollziehen. Jesus beanspruchte, die Erfüllung des Judentums und eine – die! – Alternative für das Heidentum zu sein.
Jesus war der neue Wein, den man nicht in die alten Weinschläuche des Heidentums, ja nicht einmal des alten Judentums einfüllen durfte. Das von Jesus angebotene Neue war im Letzten eine Abkehr von den Traditionen beider „religiöser Welten“, wenn auch in viel erstaunlicherem Maß im Judentum, weil Jesus ja selbst ein Jude war und in der Kultur seines Volkes aufgewachsen ist. Auch deswegen argumentierten seine ersten Anhänger gerne damit, dass im Judentum Propheten schon Jahrhunderte vorher auf einen Tag hindeuteten, an dem Gott etwas Neues in der Welt und für die Welt entfesseln würde. Diejenigen, die Augen haben, um zu sehen, würden es erkennen. Diejenigen, die Ohren haben, um zu hören, würden es hören. Und sie würden diesem Jesus nachfolgen.
Konkret kam Jesus, um einen neuen Bund zu schließen, ein neues Gebot einzuführen und eine neue Bewegung ins Leben zu rufen. Seine neue Bewegung sollte international sein. Der neue Bund würde die am Verhalten orientierten und auf Opfer beruhenden Systeme erfüllen und ersetzen, die sich fast in jeder Religion der Antike finden lassen.
Sein neues Gebot gab ein für alle Mal die Richtung an, in welche sich diejenigen bewegen werden, die ihm auf seinem Weg folgen.
Das von Jesus eingeführte Neue stand in starkem Kontrast zu den Werten und zur Entwicklung von Reich und Tempel. Das Reich ging davon aus: Wer die Macht hat, hat recht. Und während Rom das Recht beanspruchte, die Regeln zu machen, waren diejenigen, die sich um den Tempel kümmerten, darauf aus, ihre Regeln um jeden Preis zu schützen. Obwohl das Römische Reich und der jüdische Tempel tatsächlich durch Welten voneinander getrennt waren, sind doch in jedem von ihnen Werte und Annahmen eingebettet gewesen, die sie miteinander verbanden und so ein gewaltiges Hindernis für das Christentum des ersten Jahrhunderts darstellten. Dass die Kirche beides überlebt hat, ist ein Beleg für die Kraft des Evangeliums und den Mut der Christen des ersten und zweiten Jahrhunderts.
Die Gemeinden des ersten Jahrhunderts hielten dem Druck stand, die vertrauten Strömungen aus dem Reich und dem Tempel zu übernehmen und in ihren neuen Glauben zu integrieren. Das belegt, für wie unvereinbar sie die beiden gehalten haben. Das von Jesus eingeführte Neue stand in starkem, offenkundigem und eindeutigem Kontrast zu den Werten und Vorstellungen von Reich und Tempel. Die Jesus am nächsten waren, erkannten diesen Kontrast. Die Berichte der vier Evangelisten unterstreichen und veranschaulichen die Unterschiede. Der Apostel Paulus richtete seinen erbittertsten Widerstand gegen diejenigen, die versuchten, das Denken von Reich und Tempel in das von Jesus eingeführte Neue einzufügen.
Fast dreihundert Jahre lang wehrte sich die Kirche gegen den Druck und auch die Versuchung, die alten Wege einzubeziehen und einzubinden. Aber mit der Bekehrung Konstantins des Großen und der Unterzeichnung des Mailänder Edikts wandelte sich die Kirche schnell von der verfolgten Minderheit zur mächtigen Mehrheit. Fast unmittelbar danach wurde der Widerstand gegen die alten Wege durch ihre Annahme, Einbeziehung und Einbindung ersetzt.
REFORM
Schneller Vorlauf zum sechzehnten Jahrhundert und den Reformatoren, die ihr Leben dafür einsetzten und gelegentlich dabei verloren, die Kirche von den Werten, der Kultur und dem Charakter des Reichs und des Tempels zu befreien. Für viele bedeutete die Geburt des Protestantismus eine Wiederbelebung des von Jesus eingeführten Neuen. Aber der Kampf kam damals nicht zu seinem Ende. Die Versuchung, den neuen Wein, den Jesus anbietet, in die alten Weinschläuche von Tempel und Reich zu gießen, ist heute noch immer gegenwärtig. Jede Generation braucht unvollkommene Reformatoren – Männer und Frauen, die der Schlag trifft – wie es der Apostel Paulus erlebt hat –, wenn sie eine Spur der alten Wege sehen, die sich in das von Jesus eingeführte Neue eingeschlichen haben und immer noch einschleichen.
Ich bin überzeugt, dass es die Mischung, die Verschmelzung und Integration von Alt und Neu ist, die die moderne Kirche so gar nicht unwiderstehlich macht. Es sind die Mischung, Verschmelzung und Integration des Alten mit dem Neuen, die uns daran hindern, unseren Glauben in diesem Zeitalter der Fehlinformationen verteidigen zu können. Vor zweitausend Jahren warnte Jesus davor, neuen Wein in alte Weinschläuche zu gießen. Am