Sie kannte viele Arten von Fischen, so einen wie diesen hatte sie noch nicht gesehen. Doch Rosalind kannte sich erstaunlich gut aus, das hatte sie bereits bemerkt. Aber das war kein Wunder, schließlich war sie hier aufgewachsen und hatte ihre Heimat erst verlassen, um zu studieren und dann in der Stadt zu arbeiten.
Kelly blieb stehen, nicht nur, um sich das Äußere des Fisches einzuprägen, so weit das überhaupt noch erkennbar war, sondern auch, um den Möwen zuzusehen.
Es war beinahe wie bei den Menschen. Obwohl genügend Futter da war, gönnte eine Möwe der anderen nichts. Anstatt in aller Ruhe zu fressen, gingen sie aufeinander los, wollten einander vertreiben.
Kelly ging weiter, doch sie drehte sich immer wieder um, um das Treiben der Möwen im Auge zu behalten.
Weil sie unachtsam war, lief sie gegen etwas Hartes, stieß sich ganz empfindlich den Zeh. Verflixt noch mal!
Sie kannte diese Strecke bereits ziemlich gut, und hier hatte vor dem Sturm nichts gelegen, gegen das sie hätte laufen können.
Sie stieß einen Schmerzenslaut aus, hüpfte ein wenig herum, ehe sie sich um den »Stein des Anstoßes« kümmerte. Und das war es in der Tat – ein Stein, an dem sie sich gestoßen hatte.
Er war relativ groß, mit Schlamm und Schlick bedeckt, einem großen Stück Plastik, das an einer Schnur hing, die sich in dem ebenfalls angeschwemmtem Geäst verfangen hatte.
Neben dem Stein lag eine leere Flasche, ein Stückchen weiter ein verrotteter Kanister.
Es war unglaublich, was die Menschen so alles ins Meer kippten wie auf eine Müllhalde. Kelly schob alles beiseite, versuchte mit einem Taschentuch den Sand und Schlick von dem Stein zu entfernen.
Es war ein mühseliges Unterfangen. Auf jeden Fall konnte sie erkennen, dass es sich dabei um Granit handelte. Nicht nur das, es war ganz eindeutig, dass der Stein bearbeitet worden war.
Doch wie war er ins Meer gekommen?
Kelly konnte sich ihre Aufgeregtheit einfach nicht erklären. Wie unter einem Zwang drehte sie den Stein um. Es war schwer, doch es war machbar. Von der unteren Seite war er sauberer, denn er war, seit er hier im Sand lag, vom Wasser unterspült worden. Was vor ihr lag war ein Grabstein!
Da alles Mögliche an Land gespült wurde, warum nicht auch ein Grabstein, den jemand, weil er nicht wusste, wohin damit, einfach ins Meer geworfen hatte.
Das war es nicht, was Kelly erschütterte, so sehr, dass sie sich erst einmal in den feuchten steinigen Sand fallen lassen musste.
Man konnte den Stein einer Person zuordnen.
Es stand ein Name darauf, was auch nichts Außergewöhnliches war.
Und es gab ein Geburtsdatum und den Sterbetag.
Kelly spürte, wie sie einen ganz trockenen Mund bekam.
Sie starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf den Stein, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Ungeheuerlichkeit begriff.
Es war der Grabstein einer Kelly MacCready.
Nicht nur das, sie hatte, genau wie sie, am sechzehnten September Geburtstag, nur dass diese Kelly vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickt hatte …, und fünfundzwanzig Jahre nach der Geburt gestorben war. Kelly …
Sechzehnter September …
Das allein war es nicht, es gab noch eine Gemeinsamkeit. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, und wenn das jetzt ein Omen sein sollte, dann hatte sie nicht mehr lange zu leben! Der Himmel war noch immer blau. Die Sonne schien. Und die Möwen stritten um den Fisch, und deren Gekreische zerriss die Stille des Morgens. Diese Ungeheuerlichkeit nahm ihr den Atem. Das konnte doch kein Zufall sein! Machte alles Sinn?
Ihre Trennung von Jim, mit dem sie ja längst verheiratet wäre. Ihre Reise ohne Ziel. Ihr Drang, ganz schnell an den Strand zu wollen. Der Grabstein …
Wie oft wurden eigentlich Grabsteine ins Meer entsorgt und dann irgendwo an Land gespült? Kelly hatte keine Vorstellung, doch eines wusste sie. Das, was ihr hier widerfuhr, war ein Einzelfall, und das war ganz gewiss ein Zeichen – kein Zufall.
Kelly MacCready … Sie verspürte auf einmal Wärme, ein merkwürdiges Gefühl von Vertrautheit. Sie fasste mit ihrer rechten Hand nach dem Stein, fuhr sanft über die leicht aufgeraute Fläche. Kelly MacCready …
Sechzehnter September …
Fünfundzwanzig Jahre … Kelly Mortimer war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war irr! Solche Geschehnisse waren nicht von dieser Welt!
Das musste etwas mit einem parapsychologischem Phänomen zu tun haben.
Man musste es sich mal vorstellen, die andere Kelly war vor fünfundsiebzig Jahren gestorben.
Es konnte doch nicht sein, dass deren Seele nach einer so langen Zeit noch immer ruhelos herumwanderte.
Und wenn es so etwas tatsächlich geben sollte, war es dann nicht so, dass diese Geistwesen sich als Schatten zeigten?
Dass sie sich bemerkbar machten durch das Quietschen von Türen, unerklärbare Öffnen von Schubladen, durch Geräusche, durch Weinen, durch Wärme und wer weiß nicht was sonst noch.
Dass sie, um ein Zeichen von sich zu geben, ihren Grabstein vorausschickten, das war ja wohl ein Ding der Unmöglichkeit, das war so etwas von schräg.
Als Kelly das bewusst wurde, begann sie, hysterisch zu lachen.
Sie konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen. Allmählich beruhigte sie sich. Sie musste mit jemandem reden! Unbedingt! Mit Rosalind?
Nein, das war keine so gute Idee, die wartete auf Gäste und deswegen stand der wahrhaftig nicht der Sinn danach, sich eine mehr als nur merkwürdige Geschichte anzuhören.
Jonathan, dessen Familiennamen sie nicht einmal kannte und mit dem sie nicht mehr Worte gesprochen hatte, als sie Finger an den Händen hatte?
Warum hatte Kelly auf einmal das Gefühl, dass sie mit diesem Mann und sonst keinem über dieses nicht erklärbare Erlebnis sprechen konnte, für das es als Beweis nur diesen Grabstein gab?
Sie wusste es nicht, doch sie hatte es auf einmal sehr, sehr eilig.
Sie sprang auf, klopfte sich den nassen Sand von ihrer Hose, dann zerrte sie den Grabstein ein ganzes Stück weiter bis hin zu den Klippen, die den Strand begrenzten. Nicht nur das, sie hob ihn mit aller Kraft auf einen höher liegenden Gesteinsbrocken, um nur ja zu vermeiden, dass er zurück ins Meer gespült werden konnte.
Danach sah es derzeit war nicht aus, das Meer war spiegelglatt, und die Wellen rollten so sanft am Strand aus, dass es unvorstellbar war, dass sie von jetzt auf gleich mit elementarer Kraft alles zerstören konnten, was sich ihnen in den Weg stellte.
Nachdem sie den Grabstein in Sicherheit gebracht hatte, verschnaufte sie, atmete tief durch.
Schon wollte sie loslaufen, als sie innehielt, wie unter einem Zwang den Stein berührte, über die längst verblichene abgebröckelte Goldschrift strich, deren Buchstaben kaum noch zu erkennen waren.
Kelly MacCready … Kelly Mortimer hatte keine Ahnung, warum dieses Gefühl auf einmal in ihr war. Nein, korrigierte sie sich sofort.
Es war kein Gefühl, sondern die untrügliche Gewissheit, dass ihr Leben mit dem der toten Kelly MacCready unlösbar verbunden war, sie wusste nicht, woher dieses Wissen kam. Musste man für alles eine Erklärung finden?Als sie los lief, warf sie einen letzten Blick auf den toten Fisch. Die Möwen hatten ihr Interesse an ihm verloren, vielleicht waren sie aber auch nur satt.
Sie war innerlich sehr aufgewühlt, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie auch Angst. Eine Angst, die nicht ganz unbegründet war.
Identische Vornamen, identischer Geburtstag, da konnte man schon ins Grübeln kommen, wenn man wusste, dass Kelly MacCready in dem Alter gestorben war, in dem